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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar
Autoren: Sam Eastland
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Anton sollte sich derweil von der Seite anschleichen, aber Grodek hat ihn entdeckt und das Feuer eröffnet. Anton wurde verletzt. Grodek hat ihn zum Bergwerksschacht gezerrt und hinuntergeworfen.« Kirow packte Grodek an den Handschellen und hievte ihn auf die Füße. »Aber jetzt sind Sie dran.«
    Grodek schrie wieder vor Schmerzen.
    »Ich habe gehört, Sie haben Höhenangst«, sagte Kirow. Er schob Grodek zum Schacht und stieß ihn nach vorn, so dass er halb über der Öffnung hing.
    Grodek wand sich verzweifelt.
    Kirow musste nur loslassen.
    Und damit würde er eine Grenze überschreiten, von der es kein Zurück mehr gab. Schon jetzt schien er ein ganz anderer Mensch zu sein und hatte kaum noch etwas mit dem jungen Kommissar gemein, den Pekkala vor scheinbar unendlich langer Zeit im Wald kennengelernt hatte. Pekkala fühlte sich außerstande einzugreifen. Eigentlich wollte er auch nicht eingreifen, denn wenn Kirow diese Grenze heute nicht überschritt, würde es irgendwann in nächster Zeit geschehen. Und doch wusste Pekkala, dass er nicht untätig danebenstehen und alles geschehen lassen konnte. Er befahl Kirow, damit aufzuhören.
    Kurz schien der junge Kommissar verwirrt, wie jemand, der gerade aus einer Hypnose erwachte. Dann trat er einen Schritt zurück und zog Grodek an den Handschellen von der Schachtöffnung zurück.
    Grodek fiel auf die Knie.
    Pekkala ging zu den Westen, die alle auf einem Haufen lagen. Im Tageslicht wirkte die weiße Baumwolle fleckig und brüchig. Er hob eine auf und hielt sie hoch. Und plötzlich riss der spröde Stoff, und unzählige Diamanten rieselten glitzernd im Sonnenlicht zu Boden.
     
    Eine Woche darauf war Pekkala in Moskau.
    Er saß in einem holzgetäfelten Raum, hinter dessen hohen Fenstern und karmesinroten Samtvorhängen der Rote Platz lag. Eine von Thomas Lister signierte Standuhr aus dem achtzehnten Jahrhundert, die früher im Katharinenpalast gestanden hatte, zeigte in einer Ecke des Raums geduldig die Zeit an.
    Auf dem Schreibtisch vor ihm befand sich nichts außer einem leeren hölzernen Pfeifenhalter.
    Er wusste nicht, wie lange er schon wartete. Hin und wieder ging sein Blick zu den hohen Doppeltüren. Draußen auf dem Platz waren marschierende Soldaten zu hören.
    Der Traum der letzten Nacht wollte ihm nicht aus dem Kopf.
    Er war in Swerdlowsk, fuhr auf dem Fahrrad ohne Bremsen den Hügel hinunter und steuerte erneut auf den Ententeich zu. Wie zuvor landete er im Wasser. Als er, patschnass und mit Wasserpflanzen behängt, herausstieg, sah er zwischen den Binsen am gegenüberliegenden Ufer einen Mann. Es war Anton. Sein Herz machte einen Satz vor Freude. Pekkala wollte ihm zuwinken, aber er konnte sich nicht rühren. Er rief Anton etwas zu, aber dieser schien ihn nicht zu hören. Dann drehte sich sein Bruder um und verschwand zwischen den Rohrkolben. Lange stand Pekkala noch da, jedenfalls kam es ihm im Traum so vor, und dachte an den Tag, an dem auch er den Teich durchqueren und wie Anton am gegenüberliegenden Ufer stehen und ohne Schmerz, ohne Zorn oder Trauer zurückblicken würde, dorthin, woher er kam, und dann würde auch er in der Welt jenseits des Wassers verschwinden.
    Plötzlich ging an der Wand hinter dem Schreibtisch eine Tür auf. Sie fügte sich so exakt in die Holztäfelung, dass sie Pekkala bis dahin überhaupt nicht aufgefallen war.
    Der Mann, der auf ihn zukam, trug einen einfachen bräunlich grünen Baumwollanzug, dessen Jackett mit seinem kurzen, enggeschlossenen Kragen einen militärischen Schnitt hatte. Die dunklen Haare mit den graumelierten Schläfen waren glatt nach hinten gekämmt, über der Oberlippe wölbte sich ein dicker Schnauzer. Wenn er lächelte, schlossen sich die Augen wie bei einer zufriedenen Katze. »Pekkala«, begrüßte er ihn.
    Pekkala erhob sich. »Genosse Stalin«, sagte er.
    Stalin ließ sich ihm gegenüber nieder. »Setzen Sie sich«, sagte er.
    Pekkala nahm wieder Platz.
    Eine Weile betrachteten sie sich schweigend.
    Die Schläge der Uhr schienen immer lauter zu werden.
    »Ich sagte Ihnen doch, wir werden uns wiedersehen, Pekkala.«
    »Die Umgebung ist freundlicher als beim letzten Mal.«
    Stalin lehnte sich zurück und sah sich um, als hätte er den Raum noch nie richtig betrachtet. »Mir kommt sie plötzlich noch freundlicher vor.«
    »Sie haben nach mir verlangt.«
    Stalin nickte. »Wie von Ihnen erbeten, wurde Leutnant Kirow das Verdienst angerechnet, dass die Zarenjuwelen dem sowjetischen Volk zurückgegeben
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