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Roter Regen

Titel: Roter Regen
Autoren: Michael Moritz
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nachhallende Schall des Erdrutsches
faszinierten den Frontfotografen. Jetzt erst fiel ihm auf, dass es hier aussah,
als wäre Krieg. Nur dass es eben keine Schüsse und Granaten zu hören gab,
sondern das unaufhörliche Plätschern von Wasser.
    * * *
    Belledin stand vor dem großen Plakat eines nackten Menschen, über
dessen Körper bunte Linien gezeichnet waren. Auf den Linien saßen Punkte, die
mit Kürzeln versehen waren. Es handelte sich um die Meridiane der chinesischen
Medizin und deren Akupunkturpunkte. Belledin erinnerte es an einen
U-Bahn-Fahrplan.
    Der Vergleich entlockte Belledin ein Grunzen. Er glaubte nicht an
den Schabernack. Als ihm bei einem Wettkampf mal ein Wirbel zu schaffen gemacht
hatte, war auch er zur Akupunktur gerannt. Die einstweilige Verbesserung
schrieb er allerdings eher der eigenen Einbildungskraft zu als den winzigen
Nadeln, die der Chinese ihm gesetzt hatte. Beim Wettkampf vertraute er dann
wieder dem traditionellen Voltaren.
    Belledin wandte sich von dem Plakat ab und schlenderte durch die
Praxis. Warum schlitzte jemand mit einem Okuliermesser den Hals des
beliebtesten Heilpraktikers im Umkreis auf und ließ die Tatwaffe dann neben der
Leiche liegen? Ein Hinweis? Eine falsche Fährte? Ein Symbol?
    Er setzte sich hinter den Schreibtisch und wartete. Er hatte sich um
dreizehn Uhr mit Hartmanns Assistentin Christa Faller hier in der Praxis
verabredet. Sie war die letzten zwei Wochen auf einem Intensivlehrgang für
Heilpraktiker in der Toskana gewesen und erst heute Morgen zurückgekommen.
Deswegen war es ihr auch nicht möglich gewesen, an Hartmanns Beerdigung
teilzunehmen. Und es sah ganz danach aus, als ob sie den Termin mit Belledin
ebenso wenig einhalten konnte.
    Er wartete trotzdem. Eine Unterredung mit ihr war ihm wichtig.
Bisher hatte er die türkische Putzfrau vernommen und den Vermieter, dem die
Praxisräume gehörten. Außerdem hatte er einige Nachbarn befragt und das
Okuliermesser auf Fingerabdrücke und DNA -Spuren
überprüfen lassen. Fingerabdrücke waren keine zu finden gewesen, und die DNA -Partikel suchten noch ihr gegenüber.
Belledin hätte Hartmanns gesamte Klientel alphabetisch durchforsten können,
aber dann hätte er gleich das halbe Dorf bestellen müssen. Die Befragten
wussten Hartmann nur als freundlichen Menschen, pünktlich zahlenden Arbeitgeber
und Mieter zu preisen, mehr war nicht zu erfahren gewesen. Und da Hartmanns
Verwandtschaft sich bequemte, in Celle zu bleiben, war Christa Faller wohl die
Person, die dem Toten am nächsten gestanden hatte. Immerhin war sie seine
Gehilfin und kannte die Kundschaft, unter der sich der Täter befinden konnte.
Vielleicht hatte aber auch sie Gründe, Hartmann zu töten? Nach all dem, was an
Gerüchten über Hartmanns Vielweiberei kursierte, drängte sich das Motiv
Eifersucht geradezu auf. Und es wäre nicht das erste Mal, dass ein
Arbeitsverhältnis auch auf die private Ebene überschwappte. Wenn man sich den
ganzen Tag im weißen Kittel gegenüberstand, wollte man irgendwann auch wissen,
was es darunter gab. Belledin lachte bei dem Gedanken. Er liebte kleine Schlüpfrigkeiten,
behielt sie aber meist für sich.
    »Die Gedanken sind frei …«, begann er mit tiefem Bass zu singen und
blickte dabei auf seine Armbanduhr. Die Verspätung von Christa Faller sprach
nicht für sie. Vielleicht hatte sie tatsächlich etwas zu verbergen. Das gefiel
Belledin, und er begann lauter zu singen; dabei lief er von einem Raum in den
anderen, in der Hoffnung, dass ihm dabei irgendetwas auffallen würde, was er
bei seiner ersten Besichtigung übersehen hatte.
    * * *
    Killian verglich die Visitenkarte, die Bärbel ihm gegeben hatte,
noch einmal mit der Hausnummer, vor der er stand: Rathausstraße 3. Er kannte
dieses Haus und hatte schwache Erinnerungen an einen Zahnarzt, der ihm die
erste Karies aus den Backenzähnen gebohrt hatte. Reflexartig glitt seine Zunge
über die Keramikplomben, die mittlerweile sein Gebiss füllten, und schloss die
Tür seines Defenders.
    Die Praxis des Heilpraktikers befand sich tatsächlich in den
Folterkammern des einstigen Zahnarztes. Dr. Schindler war einer jener
hartgesottenen Kerle gewesen, die auch in die Gefängnisse gingen, um den
schweren Jungs auf den Zahn zu fühlen. Wenn Killian in Rückenlage gegen das
grelle Licht blinzelte, gab es keine Spritze zur Betäubung, sondern
Gruselgeschichten von Dr. Schindler, der sich weit über ihn beugte und immer
näher kam, je gruseliger die Geschichten wurden.
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