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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
Autoren: Anilda Ibrahimi
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alten durch neue zu ersetzen. Die Zeit, die niemals reicht, um Träume zu ersetzen.
    Meliha bückt sich und sucht nach etwas. Als sie sich wieder aufrichtet, hält sie ein Paar glänzende Ohrringe in der Hand. Zwei rote Steine, die in ein Goldfiligran eingearbeitet sind. Lang und funkelnd hängen sie herab, so wie der Schatten von Sultanas kurzem Leben über allem hängt.
    »Nimm sie, meine Tochter, sie mochte sie besonders gern.«
    »Warum gibst du sie ausgerechnet mir? Wir sind vier Schwestern«, erwidert Saba.
    »Weil du diejenige bist, die ihren Platz eingenommen hat, dein Schicksal ist ihr Schicksal«, sagt die Mutter.
    »Zwei Schwestern können nicht dasselbe Schicksal haben«, antwortet Saba. »Kein Gott würde zweimal dieselbe Seite schreiben. Ich nehme nur die Reste ihres Schicksals.«
    Dann schmiegt sie sich sanft an Meliha. Die Mutter legt ihrer Tochter den Arm um die Schultern und umschließt sie in einer Umarmung. Sie betrachtet das blasse Gesicht, die kleinen Brüste, die Kinderhände, auf denen noch die Hennaspuren vom Hochzeitstag zu sehen sind.
    Dieses Mädchen ist kein Kind mehr, sie ist eine Frau, die selbst Kinder zur Welt bringen, die bei Morgengrauen aufstehen wird, um die weißen Rosen in ihrem Garten zu gießen, die das Unkraut auf den frischen Feldern jäten und Fremde beherbergen wird, die vom Weg abgekommen sind … Eines Tages wird sie sterben, wir alle sind dazu verdammt. Bevor sie stirbt, wird sie mit einem anderen Blick an ihre Mutter zurückdenken. Der Blick, der das eigene Leben verwoben mit tausend anderen Leben sieht. Sie wird begreifen, dass auch das Schicksal war. Aber dazu braucht es Zeit. Jetzt kann sie sie nur an sich drücken und immer wieder an sich drücken. Sie hat Zeit bis zum Morgen, dann wird alles sein wie zuvor, zurückbleiben wird nur das sanfte Wiegen ihrer Umarmung, das sich im Dunkel dieser Nacht verliert.
    »Schlaf, mein Kind, schlaf.«
    Keine Frau der Welt nimmt gerne die Reste des Lebens einer anderen, schon gar nicht, wenn das, was übrig bleibt, die Gestalt eines verzweifelten Ehemanns hat. Das ist Melihas letzter Gedanke, bevor sie die Lampe löscht und auf das Licht der Morgendämmerung wartet.

Sechs
     
    Nach vier Jahren wird das verschreckte Huhn endlich schwanger und bringt eine Tochter zur Welt. Sie ähnelt Saba, und laut der Schwiegermutter sieht sie aus »wie ein dummes Küken im Regen, ganz die Mutter«. Musste dieses blonde Ding, das so dünn ist wie eine »Klobürste«, ausgerechnet ihrem Sohn unterkommen? Es ist geradezu ein Fluch.
    Für Omer endet das Unglück nie: Schon bald hat er drei Töchter, so dumm wie die Mutter, die eine nach der anderen zur Welt bringt. Die Mädchen folgen ihr überallhin, wie Schatten. Es scheint, als habe sie sie aus einem früheren Leben mitgebracht, als gehörten sie schon immer zu ihr, nur zu ihr. Außerhalb des Hauses erkennen die Mädchen das Gesicht des Vaters nicht, und er merkt sich nicht einmal ihre Namen.
    Die offizielle Geburtsanzeige ist keine leichte Sache. Die Ämter befinden sich in der Stadt, man braucht einen Tag hin und einen zurück. Manchmal lohnt es sich gar nicht, es gleich zu erledigen. Oft schaffen die Kinder nicht einmal das erste Lebensjahr, und dann muss man wieder hin, um den Tod anzuzeigen. Besser, man wartet ein paar Jahre, dann sind es schon mehrere Kinder, und man unternimmt die Reise nur einmal.
    Als sich Omer in die Stadt begibt, um seine drei Töchter eintragen zu lassen, wird er von einem Cousin ersten Grades beherbergt. Die Frau des Cousins hat ein herrschaftliches Abendessen zubereitet. Die Rakiflasche steht mitten auf dem Tisch, ohne dass jemand die Gläser zählt. Man sieht, denkt Omer, dass der Cousin ein echter Mann ist. Seine Frau wagt es nicht, die Flasche wegzunehmen, bevor sie nicht vollständig geleert ist. Und auch nur, um sie durch eine neue zu ersetzen. Er selbst muss dagegen um jedes Glas kämpfen, und es endet meistens damit, dass er in den Keller steigt und sich direkt unter das Fass legt.
    Nach dem Essen führen sie ihn ins eheliche Schlafzimmer. Dem Gast soll es an nichts fehlen, man kann ihn schließlich nicht in der Küche oder bei den Kindern schlafen lassen. Während die Frau des Cousins die Decken holt, um ihrem Mann in der Küche ein Lager zu bereiten, hört Omer sie zur Tochter sagen:
    »Das hat mir gerade noch gefehlt, mein Bett einem Säufer zu überlassen.«
    Omers letzter Gedanke vor dem Einschlafen ist, dass solche Worte niemals über die Lippen seiner
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