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Rost

Titel: Rost
Autoren: Philipp Meyer
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noch die Schneeflocken im Lichtschein der Veranda trudeln. Nein, er
hatte Isaac nicht jedes Mal verteidigt, so sah’s aus. Das wusste Isaac selbst
nicht, doch was passiert war, war passiert und nicht zurückzudrehen.
    Nur dass unterm Strich jetzt Gleichstand herrschte. Vor zwei Monaten,
der Fluss war zugefroren, dünnes Eis, da schaute Isaac ihn an und sagte, du
denkst wohl, ich trau mich nicht, dann trat er von dem Felsen, schaffte nur
noch ein paar Schritte und brach ein und war verschwunden. Poe verharrte einen
Augenblick in Panik, dann sprang er ihm nach, er krachte durch das lächerliche
Eis, er zerrte Isaac an Land, sie waren beide triefend nass und fast erfroren,
Isaac, der in den Fluss gegangen war wie seine Mutter. Wenn das kein Zeichen
war, dann wusste er es auch nicht – dass erst er Isaac rettete und Isaac jetzt
ihn. Das zeigte einem, dass es einen Grund für alles gab.
    Er sah sich ihren Trailer an, seine Mutter hatte ihn nicht kaufen
wollen, aber da hing eine Menge Land dran, und sein Vater hatte es gewollt, das
Land. Diese Runde hatte er gewonnen, irgendwie, doch danach trennten sie sich,
und sie saß am Arsch der Welt mit diesem Trailer. Seine Mutter, die erwog, nach
Philadelphia zu ziehen, die ein paar Semester an der Universität gewesen war.
Die früher mal gut ausgesehen hatte, selbst wenn sie gerade aus dem Bett
gefallen war, heute aber mit strubbeligen Haaren und in abgeranzten
Jogginghosen einkaufte. Das und ihr Mann, der sie verlassen hatte. Deine Lage
sorgte auch nicht grade dafür, dass ihr ruhiger zumute wurde, auf die Uni
hättst du gehen sollen, und sei es nur ihr zuliebe. Er beschloss, an etwas
anderes zudenken: Bei der ganzen Nässe und der Sonne ist das Gras doch
morgen sicher frisch, und die Karnickel kommen raus. Das Wildfleisch wird dich
heilen. Eintopf und ein Bier zu Mittag. Ob wohl, überlegte er, noch was vom Hirsch
vom letzten Jahr in der Kühltruhe war? Doch nichts war so gut wie frisches
Kaninchen, ein paar Stunden schmoren, und es fällt vom Knochen. Oder klopf es
flach und tunk’s in Pfannkuchenteig und dann braten. Wildfleisch bringt’s, das
hatte er vorm Spiel immer gegessen, und es würde ihn jetzt wieder auf die Reihe
bringen. Also steh schon auf. Er sah sich selbst aus der Entfernung zu. Der
kleine English wird es keinem sagen, dass die dich so fertiggemacht haben, na,
was soll’s, hat dich gerettet – bist ihm jetzt was schuldig. Ganz gleich was er
will, du musst es machen. Wird wahrscheinlich seiner Schwester alles sagen.
Aber der wird es egal sein. Lieber gar nicht an sie denken. Damit hatte er eh
schon Probleme, aber jetzt besonders, und von ihrer Heirat ganz zu schweigen,
davon hatte sie ihm nichts gesagt, kein Sterbenswörtchen davon, Scheiße, dabei
war ihm immer klar gewesen, dass es zwischen ihnen nur um Spaß und Spiel ging.
Er betrachtete die Schneeflocken im Licht, es war ihm warm dort unter seinem
Baum, wie er dem Schnee beim Fallen zusah, irgendetwas stimmt nicht, dachte er,
er konnte es nicht richtig deuten, alles war ganz still.
    ***
    Grace Poe saß in dem Trailer, in dem unförmigen grauen Joggingzeug,
das sie fast jeden Tag anzog, auch in die Stadt. Wie lang sie schon dasaß und
die Paneelverkleidung ihrer braunen Trailerwand anstarrte, wusste sie nicht
mehr. Den Fernseher hatte sie ausgemacht, damit sie nachdenken konnte, vor
einer Stunde etwa, das war ihr in letzter Zeit oft lieber als Fernsehen,
einfach dasitzen, wild die Gedanken schweifen lassen, sie stellte sich vor, die
Heilige Stadt zu besuchen, und sie wusste, diese Reise würde sie im Leben nicht
machen. Sie stellte sich vor, in Italien an felsigerSteilküste Urlaub zu
machen, die uralten Burgen, die sengende Sonne, trocken und heiß. Für die
Knochen wär das eine Wohltat. Der Wein fließt in Strömen, und alle sind
braungebrannt.
    Da draußen war es weniger dunkel als sonst, die Sturmwolken wehten
Licht aus der Stadt heran. Sie meinte, vorhin auf der Straße ihren Sohn gesehen
zu haben. Vielleicht hatte sie sich auch geirrt. Du wirst allmählich alt,
dachte sie, und ein bisschen irre. War das tragisch oder komisch? Ach was,
komisch, beschloss sie. Sie ärgerte sich über Billy – es fehlte an Feuerholz,
sie lag unter zwei Decken da, war das zu viel verlangt, dass er Holz hackte und
das Haus heizte? Darüber durfte man sich schon aufregen. Nicht dass sie
erfrieren würden, schließlich hatten sie eine elektrische Fußleistenheizung,
aber die kostete ein Vermögen, undenkbar, sie zu
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