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Rost

Titel: Rost
Autoren: Philipp Meyer
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benutzen. Eine neue Heizung
mit Propangas oder Heizöl wäre besser gewesen, aber sie hasste es, im Trailer
zu leben, und hoffte schon seit Jahren drauf, bald auszuziehen. Einen
anständigen Ofen anzuschaffen, Geld im Trailer zu versenken wäre ihr wie
Aufgeben erschienen. Lieber in der Kälte sitzen. Sie stand auf und trat ans
Fenster, spähte durch ihr Spiegelbild, doch auf der Straße, auf dem Feld war
nichts, bis auf die stille Leere, die dort immer war. Sie hätte nie gedacht,
dass sie einmal in einem Trailer auf dem Lande leben würde.
    Wieder schaute sie ihr Spiegelbild an. Einundvierzig, ihre Haare
überwiegend grau, sie färbte sie nicht mehr, seit ihr Mann ausgezogen war, um
ihm zu trotzen oder auch sich selbst, das wusste sie nicht, aber zugenommen
hatte sie dann auch, es ballte sich unter dem Kinn. Ein bisschen plump war sie
zwar immer schon gewesen, allerdings nicht im Gesicht. Es kam ihr vor, als ob
sogar die Augen stumpf geworden wären, ausgebrannt wie alte Autoscheinwerfer.
Bald würde sie die Art Gesicht haben, bei dessen Anblick man nur denken konnte:
alt. Jetzt Schluss mit deinem Selbstmitleid, ermahnte sie sich. Kümmer dich ein
bisschen besser um dich. Es war richtig, Virgil wieder aufzunehmen. Virgil
hätte keinen Ofen leer und kalt gelassen.
    Und was ihn betraf, so hegte sie zwar Hoffnungen, doch wurde all
das immer unwichtiger – wer in ihrem Alter war und einen Job hatte, der blieb
vielleicht einige Wochen, höchstens Monate mit ihr zusammen. Jedes Mal hatte
sie neu gehofft, und jedes Mal war’s wieder schiefgegangen, alle wollten nur
umsorgt werden, das Abendessen sollte auf dem Tisch stehen, das müsste
eigentlich ein Witz sein, war es aber nicht. Die Hälfte dieser Männer gab sich
nicht mal Mühe, wenn’s um Sex ging, wenigstens das sollte man erwarten können,
tja, von wegen. In der Bücherei hatte sie sich im Internet bei einer Partnervermittlung
gemeldet, aber alle Männer ihres Alters suchten nach viel Jüngeren, und in den
Bars genauso, offenkundig kam sie nur für über Fünfzig-, über Sechzigjährige in
Frage, Männer, die mit Frauen vögeln wollten, deren Väter sie hätten sein
können. Also immerhin kam Virgil wieder. Und sie dachte, ja, jetzt, wo’s ihm
grad so passt, verhuschte kleine Maus, die du geworden bist.
    Der Schnee fiel draußen heftiger, sie sah jemand am Rand des
Vorplatzes, betrunken, dachte sie, der spielt da rum und pinkelt seinen Namen
in den Schnee, und in den Öfen fehlt das Brennholz. Vor einigen Jahren, kurz
nach Virgils Weggang, hatte sie ein Angebot bekommen, einen Job in Philadelphia,
und beinah angenommen, aber damals lief es grad so gut für Billy in der Schule,
durch den Football, und sie hatte immer noch gehofft, dass Virgil bald zu ihr
zurückkäme. Sie wusste, wie das Leben ausgesehen hätte – fünfunddreißig,
Stadtapartment, Abendschule, als Alleinerziehende –, wie im Kino. Und dann
hätte sie geheiratet, natürlich einen Anwalt. Und ihren Abschluss gemacht.
Stattdessen lebte sie im Trailer in Buell mit dem verwöhnten Kind – Mann – oder
was er jetzt war, ihrem Sohn, der beinah alles hätte haben können,
Sport-Stipendium, und sich entschieden hatte, dass er weiterhin bei seiner
Mutter wohnen wollte und, wenn sie nicht kochte, hungrig schlafen ging. Sie
fragte sich, warum sie derart schlechte Laune hatte. Möglich, dass grad irgendwas
passierte.
    Sie beschloss, auf die Veranda rauszugehen. Ihre Füße wurden kalt
und nass, doch es war wunderschön da draußen, alles weiß, die Bäume, Gras, das
leere Haus des Nachbarn, ein Gemälde, wirklich, Schnee im Frühling, aus der
Jahreszeit gefallen, untendrunter konnte man das Grün erkennen, es war alles
friedlich. »Billy«, sagte sie ganz leise, so als könnte ihre Stimme diesen
Frieden stören. Er saß unter einem Baum am Rand des Vorplatzes. Da stimmte
etwas nicht. Er hatte Schnee im Haar und keine Jacke an. Sie beugte sich weit
über das Geländer. Er schaute nicht hoch.
    Sie rief: »Billy. Komm rein.«
    Er rührte sich nicht.
    Sie lief barfuß raus. Und als sie bei ihm stand, bewegten sich die
Augen langsam, blickten sie an, dann auf irgendetwas anderes. Er war weiß im
Gesicht, er hatte eine Wunde am Hals, Blut war auf sein T-Shirt gespritzt,
hatte es befleckt. Sie schüttelte ihn. »Steh auf«, sagte sie.
    Sie wollte ihn hochziehen, doch er war totes Gewicht, nein, dachte
sie, das ist nicht fair, sie schob ihm einen Arm unter, er half ihr immer noch
nicht, er war so schwer, dass sie
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