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Rosenpsychosen

Rosenpsychosen

Titel: Rosenpsychosen
Autoren: Anna-Maria Prinz
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Sie nicht, und wenn Sie es doch tun, dann an der falschen Stelle. Und immer schön pianissimo! Da steht forte, Herr Herzog, forte! UndSie trauen sich nicht mal, piano zu spielen! Und mit diesem Gestümper sind Sie auch noch zufrieden! Ich meine … Warum das alles? Das bringt doch nichts! Nichts! Wissen Sie, was? Ich kann das nicht. Ich bin nicht dazu geschaffen, hier eine Dreiviertelstunde lang die Kindergärtnerin zu spielen. Einem dressierten Affen bringt man eher Klavierspielen bei als Ihnen! Und Ihre Angst, zu stören oder Lärm zu machen, ertrage ich auch nicht. Wofür schämen Sie sich eigentlich ständig? Gehen Sie zu Hause immer barfuß, um Ihre taube Nachbarin nicht aus dem Schlaf zu reißen? Und Mutti? Ja, Mutti! Einmal die Woche Mutti auf dem Friedhof besuchen, ja? Tut mir leid, Herrzog, ich kann das nicht. Nein!«
    Marie schlug den Klavierdeckel zu, und Herr Herzog hatte großes Glück, seine erstarrten Finger mit einer für ihn erstaunlichen Schnelligkeit rechtzeitig weggezogen zu haben. Während Marie stumm neben dem Klavier sitzen blieb, packte Herr Herzog mit hochrotem Kopf seine Noten zusammen, legte noch die übliche Summe auf den Tisch, nahm seine Outdoor-Fahrradjacke und verschwand, »Auf Wiedersehen« murmelnd, auf leisen Sohlen.
    Nach einer geschlagenen Minute bereute Marie ihre unmenschliche, gemeine Entladung bereits. Trotzdem fand sie, dass sie im Recht gewesen war, und erhob sich von ihrem Stuhl neben der verlassenen Klavierbank.
    Martin kam herein und wollte fragen, was los gewesen sei, als es Sturm klingelte.
    »Entweder«, sagte Marie, »ist das jetzt Herr Herzog, der weint, oder Herr Herzog mit einer Wumme in der Hand.«
    »Na, dann werde ich ihm wohl besser aufmachen, nicht wahr, Schnuckelpuppe«, sagte Martin und ging zur Tür.
    Dieses Vorgehen leuchtete Marie sofort ein. Selbstlos befand sie, es sei im Allgemeinen für Kinder viel wichtiger, eine Mutter zu haben als einen Vater. Außerdem verdienteMartin kein Geld mehr, und wenn er nun im Kampf gegen Herrn Herzog fallen würde, hätte sie ihm sogar zu einem ehrenhaften Tod verholfen, was er nach ihrem Ermessen sehr gutheißen müsste. Schließlich hatte er ihr die Vollbringung guter Taten empfohlen. »Ja, gut, geh du vor«, sagte sie und schlich wie ein mutiges, dreibeiniges, taubstummes Lämmchen unauffällig hinter ihm her.
    Marie blinzelte hinter Martins Rücken hervor und sah, dass Herrn Herzogs Kopf immer noch tomatenrot war. Sein Atem ging schnell, als er stotternd und bereits mit wildem Blick auf Marie fragte, ob er selbige sprechen könne. Er wirkte entschlossen. Martin schien es für ratsam zu halten, ihn nicht ins Haus zu bitten, sondern Marie lediglich freizugeben und selbst an Ort und Stelle zu bleiben.
    »Sie!«, rief Herr Herzog echauffiert.
    »Ich?«, fragte Marie.
    Seinen neonfarbenen Fahrradhelm auf dem Kopf, den blauen Funktionsrucksack auf dem Rücken, stand Herr Herzog da wie ein Marathonläufer kurz vor dem Startschuss. Er formte aus Zeigefinger und Daumen eine Pistole, richtete diese auf Marie und hob an: »Ja, Sie! Sie … Sie h-haben ja überhaupt keine Ahnung! Sie … W-wissen Sie was? Ich wwollte Klavier spielen, weil in m-meiner Straße in zwei Wochen w-wieder das B-Bürgerfest stattfindet. Und da … dada … da ist immer einer von drei Häusern weiter, der Flöte spielt. Und ich dachte, vielleicht könnte ich mal m-mit ihm ins Gespräch k-kommen … über das Klavier, zusammen spielen sogar. Ich w-wüsste nicht, wie ich ihn sonst ansch-schprechen sollte. Aber das kann Ihnen ja egal … egal sein! Sie haben bestimmt k-keine Probleme, jemanden anzusprechen! Sie sind ja auch keine N-Niete! Und deshalb d-dürfen Sie mich n-natürlich s-so nennen! Ja, ich b-bin untalentiert, m-meinen Sie, das … das wüsste ich nicht?«
    Herr Herzog hielt inne.
    Martin näherte sich ihm mit Bedacht, legte seine Hand auf die Fingerpistole und senkte sie vorsichtig nach unten, sodass sie jetzt auf Herrn Herzogs Fuß zielte.
    Doch der blickte friedlich auf den See, atmete ganz ruhig aus und setzte, ohne zu stottern, zur Coda an: »Und meine Mutter, die besuche ich, so oft ich will. Meine Mutter war mit mir auf dem Jakobsweg, wissen Sie. Haben Sie so etwas schon mal gehört? Eine Mutter, die mit ihrem Sohn den Jakobsweg geht, damit er lernt, seine Persönlichkeit anzunehmen. Was meinen Sie, wie lange ich mich dagegen gesträubt habe, schwul zu sein? Ich habe mich verabscheut deswegen. Aber meine Mutter, die wollte, dass ich dazu
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