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Rosenmunds Tod

Rosenmunds Tod

Titel: Rosenmunds Tod
Autoren: Theo Pointner
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wieder in Richtung der Zimmerdecke, die Bewegungen ihrer sechs Beine waren für das menschliche Auge kaum nachzuvollziehen.
    Carla op den Hövel hockte starr auf der Kante des Hotelbetts und beobachtete die Fliege eindringlich. Insekten, besonders Fliegen, waren faszinierende Wesen, leichtfüßig, widerstandsfähig, zäh, echte Überlebenskünstler. Ihr Leben lief im Zeitraffer ab, durch die spezielle Konstruktion ihrer Augen und ihren speziellen Stoffwechsel nahmen sie menschliche Bewegungen wie in Slowmotion war. Als Kind hatte Carla oft versucht, Fliegen mit der Hand zu fangen, und es nicht verstanden, warum sie trotz schnellster Fangversuche so gut wie nie Erfolg hatte. Bis sie irgendwann in einem Biologiebuch die Erklärung gefunden hatte. Sie war tief beeindruckt gewesen, als sie las, dass diese Tiere in einem Kino verrückt werden mussten; im Gegensatz zum Menschen sahen sie jedes einzeln aufgenommene Bild, für sie musste eine Vorführung in einem Lichtspielhaus ein einziges Lichtgewitter sein.
    Um halb zwölf hatte die Anwältin ihr Hotelzimmer betreten, seitdem saß sie hier und wartete auf den Abend. Jegliche menschliche Regung hatte sie unterdrückt, ihre Blase presste sich in die unteren Eingeweide und verursachte schon seit Stunden wellenartige Schmerzen. Aber Carla registrierte es kaum.
    Ihre Arbeit war fast getan, zugegeben weit weniger erfolgreich, als sie es gehofft hatte. Natürlich musste Swoboda ins Gefängnis, die Beweislast gegen ihn war einfach zu erdrückend. All die Jahre, in denen er unentdeckt geblieben war, hatten ihn unvorsichtig werden lassen, ein häufiger Fehler. Aber wenigstens konnten die Kinder, diese kleinen Schlampen, die sich zwischen sie und ihr Liebstes auf der Welt hatten drängen wollen, nicht mehr gegen ihn aussagen. Verheulte Blagen hinterließen vor Gericht immer einen verheerenden Eindruck, die Strafe schraubte sich dadurch in der Regel in die Höhe. Und wenn sie die Staatsanwältin noch ein wenig mehr antörnte, ließ die sich ja eventuell auf einen Deal ein.
    Sie hatte die Fliege aus den Augen verloren, erschrocken ruckte ihr Kopf einige Millimeter hoch. Ja, da war sie, in der Kante zwischen Wand und Zimmerdecke. Beruhigt atmete op den Hövel durch und sah auf die Uhr. Noch hatte sie Zeit.
    Ihr erster Eindruck von de Vries hatte sie nicht getäuscht, die Kuh stand auf Frauen. Ihre Augen, als sie zum ersten Mal das Vernehmungszimmer betreten hatte, hatten Bände gesprochen. Zu oft schon hatte sie diesen Ausdruck in Männeraugen gesehen, um nicht zu wissen, was der bedeutete. Bei Frauen waren diese Blicke weitaus seltener zu beobachten, meist signalisierten sie eher den puren Neid auf Carlas perfekte Figur, ihr weich gezeichnetes Gesicht, ihre gesamte Ausstrahlung. Dann bildeten sich wütende Fältchen in den Mundwinkeln der anderen, de Vries jedoch hatte bei Carlas Anblick tief durchgeatmet, ihren Körper gemustert und war dann in ihren Augen versunken. Blitzschnell hatte op den Hövel entschieden, es zu versuchen, ihre Menschenkenntnis hatte ihr nicht nur vor Gericht schon das eine oder andere Mal geholfen. Und wenn sie jetzt dafür sorgen konnte, dass de Vries Swoboda weniger hart anfasste, dann würde sie alles in ihrer Macht Stehende dafür tun.
    Onkel Hans war schließlich der einzige Mann, den sie je geliebt hatte. Und immer noch liebte.
    Er war stets für sie da gewesen, hatte immer an sie geglaubt und sich rührend um sie gekümmert, gerade auch während des einen Jahres, als sie im Krankenhaus gelegen hatte. Von vorneherein war ihr klar gewesen, Onkel Hans war anders als andere Männer, vor allem anders als ihr Vater. Wenn Onkel Hans ihre Eltern besuchte, hatte er ihr immer etwas mitgebracht, Schokolade, Spielzeug oder er hatte ihr etwas Geld in die Hand gedrückt. O nein, ihren Eltern war es finanziell nicht schlecht gegangen, glaubte sie damals jedenfalls, immerhin wohnten sie in einem großen Haus, zwei Häuser neben dem von Onkel Hans; von den Schulden ihres Vaters hatte sie erst viel später erfahren.
    Sie durfte, wann immer sie wollte, zu ihm herüberkommen, in seinem Schwimmbad plantschen oder seinen Kühlschrank plündern. Wenn sie sich unterhielten, sprachen sie über die Dinge, die sie interessierten, nicht über Schule, obwohl sie mit Abstand die Beste in ihrer Klasse war. Je länger sie ihn kannte, umso mehr vertraute sie sich ihm an, irgendwann erzählte sie ihm auch, dass ihr Vater ihre Mutter und sie regelmäßig brutal verprügelte. Onkel Hans
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