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Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Titel: Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Autoren: David Kirk
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so?», erkundigte sich der Junge besorgt.
    Munisai nickte. Kanno lächelte, stolz auf sein Werk. Er zog das jahrhundertealte Siegel seines Clans hervor und drückte es unter die Schriftzeichen. Dann wurde das Seidentuch zusammengefaltet, versiegelt, in eine Schmuckschatulle gelegt und fortgetragen. Nach dem Ritual würde man noch eine Haarlocke des Fürsten hinzufügen und die Schatulle seiner Mutter übersenden, zum Beweis, dass er würdig gestorben war. Sie würde unter Tränen lächeln.
    Nun breitete man ein Tuch aus weißem Hanf auf dem morastigen Boden aus, während Fürst Kanno seine Rüstung ablegte. Den zeremoniellen Dolch löste man aus Uenos Griff, reinigte ihn in einem Wassereimer und überreichte ihn Kanno. In seinen Händen wirkte er so groß wie ein Schwert. Der Junge richtete die Klinge auf sich.
    «Quer durch den Bauch?», fragte er.
    «Ja», antwortete Munisai. «Es wird nicht lange weh tun. Das verspreche ich Euch, Hoheit.»
    Munisai zog erneut sein Schwert, und da der Hieb diesmal dem Jungen galt, tröpfelte er Wasser darüber. Eine reine Klinge für eine reine Kinderseele. Als er diesmal die Waffe hob, glänzte sie in der Nachmittagssonne, fast wie ein Lichtstreif. Er nickte Kanno zu. «Eure Ahnen zählen auf Euch, Hoheit. Seid tapfer.»
    «Danke, Munisai.» Damit wandte sich der Junge um und verneigte sich ein letztes Mal vor Fürst Shinmen und den versammelten Samurai. Dann kniete er sich aufrecht hin und stieß sich den Dolch in den Bauch. Er riss die Augen auf und krümmte sich.
    Von einem Kind erwartete man natürlich nicht, dass es sich die Klinge quer durch den Bauch zog. Als Munisai den Jungen scharf einatmen hörte, ließ er sein Schwert treffsicher auf dessen Nacken niederschnellen, ehe Kanno aufschreien und sich damit beschämen konnte. Der Kopf fiel mit einem dumpfen Laut herab, und der kleine Leib sank beiseite. Das weiße Hanftuch färbte sich rot.
    Tief verneigten sich die versammelten Samurai, Fürsten wie einfache Krieger, vor dem Toten, und ein Seufzer der Bewunderung ging durch ihre Reihen. Solch tadellose Tapferkeit trotz so zarter Jugend.
    «Was stand denn in seinem Todesgedicht, Munisai?», fragte Fürst Shinmen.
    «Es steht mir nicht an, das zu offenbaren, Hoheit», erwiderte der.
    Shinmen hätte es ihm befehlen können, doch als er den Ausdruck in Munisais Augen sah, nahm er Abstand davon.
    Nachdem Kannos Kopf und Leib nicht mehr bluteten, säuberte und salbte man sie und schlang sie in ein weißes Leichentuch. Dann verbrannte man den Toten. Die Asche streute man in den Wind, auf dass sie bis an die fernsten Ufer Japans fliegen möge. Anschließend fügte man den Namen des Jungen ehrenvoll der langen Ahnenreihe auf dem jahrhundertealten Grabstein seines Clans hinzu. Es sollte der letzte Name sein, der je darauf eingemeißelt wurde. Jahre später spross nahe der Stätte des Seppuku ein Baum empor und überzeugte die dortigen Bauern, dass ihr tapferer Fürst zu ihnen zurückgekehrt sein musste. Sie flochten ein geweihtes Seil und banden es um den Baum, damit Kannos Geist sie nie mehr verlassen möge, und noch Jahrhunderte später kamen adlige Damen, wenn sie schwanger waren an diesen Ort und beteten, dass ihre Kinder ebenso tapfer würden wie einst der junge Fürst.
    General Ueno hingegen überließ man den Krähen.
    * * *
    Schuld an dem Krieg war der alte Fürst Kanno gewesen. Im Sommer zuvor hatte er plötzlich an seine Jugend anknüpfen und noch einmal Soldat spielen wollen. Shinmen war gerade in einen Krieg mit einem Nachbarn im Norden verwickelt, woraus Kanno schloss, dass er nicht in der Lage sein würde, die wertvollen Reisfelder an seiner Ostgrenze zu schützen. Und eine Zeitlang behielt Kanno damit recht.
    Doch dann beging er den Fehler, im Winter auszureiten. Nach der erfolgreichen Annexion der Reisfelder fühlte sich der alte Fürst im Herzen wieder wie ein Zwanzigjähriger. Seine Knie jedoch blieben auch weiterhin siebzig, und die Bergpfade waren selbst bei bestem Wetter tückisch. Aus der Schlucht geborgen, in der man ihn fand, wirkte sein Leichnam alles andere als fürstlich.
    Kanno war ein alter geiler Bock gewesen und hatte mit vielen, später verbitterten Frauen viele Söhne gezeugt. Ihn trieb die große Furcht um, diese Jungen könnten ihrer Mutter mehr zugetan sein als ihm. Von seinen vier vorherigen Erben war, sei’s durch Unfall oder Absicht, keiner älter geworden als neunzehn Jahre, und nun hatte sein fünfter Erbe nicht einmal das zehnte Lebensjahr
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