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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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immer wütender wurde: «Um die Schritte.» Jeder hat seine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne in Birkenau, sondern schon hier zu Hause. Ich habe sie mit meinem Vater gemacht, mit meiner Mutter, mit Annamaria und auch – vielleicht die schwersten – mit der älteren Schwester. Jetzt könnte ich ihr sagen, was es bedeutet, «Jude» zu sein: nichts, für mich nichts und ursprünglich nichts, solange die Schritte nicht einsetzen. Nichts von alldem ist wahr, es gibt kein anderes Blut, es gibt nichts, bloß …, ich stockte, doch da ist mir plötzlich der Ausdruck des Journalisten eingefallen: es gibt bloß die gegebenen Umstände und in ihnen neue Gegebenheiten. Auch ich habe ein gegebenes Schicksal durchlebt. Es war nicht mein Schicksal, aber ich habe es durchlebt – und ich begriff nicht, warum es ihnen nicht in den Kopf ging, dass ich nun eben etwas damit anfangen, es irgendwo festmachen, irgendwo anfügen musste, dass es jetzt nicht mehr genügen konnte, mir zu sagen, dass es ein Irrtum war, ein Unfall, so eine Art Ausrutscher, oder dass es eventuell gar nicht stattgefunden hat, womöglich. Ich sah schon, sah es sehr wohl, dass sie mich nicht recht verstanden, dass meine Worte ihnen nicht so recht behagten, ja, dass das eine oder andere ihnen geradezu auf die Nerven ging. Ich sah, wie Herr Steiner mich hie und da unterbrechen, hie und da beinahe schon aufspringen wollte, ich sah, wie ihn der andere Alte zurückhielt, und ich hörte, wie er zu ihm sagte: «Lassen Sie ihn, sehen Sie denn nicht, dass er einfach reden will? Lassen Sie ihn doch reden», und ich redete auch, wahrscheinlich umsonst und wohl auch etwas unzusammenhängend. Aber auch so habe ich ihnen erklärt, dass man nie ein neues Leben beginnen, sondern immer nur das alte fortsetzen kann. Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mit Anstand. Der einzige Fleck, der einzige Schönheitsfehler, den man mir eventuell vorwerfen könnte, das einzig Zufällige sei, dass wir uns jetzt hier unterhielten – doch dafür konnte ich nichts. Ob sie denn wollten, dass diese ganze Anständigkeit und alle meine vorangegangenen Schritte nun ihren ganzen Sinn verlören? Warum dieser plötzliche Gesinnungswandel, warum diese Widerspenstigkeit, warum dieser Unwille, einzusehen: wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich: Wenn es aber – so fuhr ich fort, selbst immer überraschter, immer erhitzter – die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal, das heißt also – ich hielt inne, aber nur, um Atem zu holen –, das heißt also, wir selbst sind das Schicksal – dahinter war ich plötzlich gekommen, und zwar in diesem Augenblick mit einer solchen Klarheit wie bisher noch nie. Ein bisschen bedauerte ich sogar, nur sie und nicht intelligentere, sozusagen würdigere Gegner vor mir zu haben. Aber sie waren nun einmal da, sie sind – so ahnte ich wenigstens in diesem Augenblick – überall da, und jedenfalls waren sie auch da gewesen, als wir meinen Vater verabschiedet hatten. Auch sie hatten ihre Schritte gemacht. Auch sie hatten im voraus alles gewusst, auch sie hatten alles vorausgesehen, auch sie hatten sich von Vater verabschiedet, als sei es schon sein Begräbnis, und später waren sie sich auch bloß darüber in die Haare geraten, ob ich mit der Vorortbahn oder besser mit der Straßenbahn nach Auschwitz fahren sollte … da aber ist nicht nur Herr Steiner, sondern auch der alte Fleischmann aufgesprungen. Er versuchte zwar noch immer, den anderen zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht mehr. «Was?», fuhr dieser mich an, mit hochrotem Gesicht, sich mit der Faust auf die Brust schlagend: «Am Ende sind wir noch die Schuldigen, wir, die Opfer?», und ich versuchte, ihm zu erklären: Es gehe nicht um Schuld, sondern nur darum, dass man etwas einsehen müsse, schlicht und einfach, allein dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen. Man könne mir, das sollten sie doch versuchen zu verstehen, man könne mir doch nicht alles nehmen; es gehe nicht, dass mir weder vergönnt sein sollte, Sieger, noch, Verlierer zu sein, weder Ursache noch Wirkung, weder zu irren noch recht zu behalten; ich könne – sie sollten doch versuchen, das einzusehen, so flehte ich beinahe schon: ich könne die dumme Bitternis nicht herunterschlucken, einfach nur unschuldig sein zu sollen. Doch freilich, ich merkte, sie wollten gar nichts einsehen, und so bin ich dann, Sack und Mütze nehmend,
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