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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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Weise, dann fragte ich und erfuhr, dass in unserer Wohnung tatsächlich inzwischen andere Leute wohnten. Ich wollte wissen: «Und wir?», und weil sie sich irgendwie schwertaten, fragte ich: «Mein Vater?», worauf sie dann endgültig verstummt sind. Nach kurzer Zeit hob sich langsam eine Hand – ich glaube, die von Herrn Steiner – in die Höhe, machte sich auf den Weg und ließ sich dann, wie eine vorsichtige alte Fledermaus, auf meinem Arm nieder. Dem, was sie dann sagten, konnte ich im Wesentlichen so viel entnehmen, dass «wir an der Echtheit der Trauerbotschaft leider nicht zweifeln können», weil sie auf dem «Zeugnis ehemaliger Kameraden» beruhe, demgemäß mein Vater «nach kurzem Leiden verschieden» sei, in einem «deutschen Lager», das sich aber eigentlich auf österreichischem Gebiet befinde, na … wie heißt es doch gleich …, und ich sagte: «Mauthausen.» – «Mauthausen!» riefen sie erfreut, worauf sie sich wieder verdüsterten: «Ja, genau.» Ich fragte sie dann, ob sie nicht vielleicht Nachricht von meiner Mutter hätten, und sie sagten gleich: Aber ja, doch, und zwar eine erfreuliche, sie lebt, ist gesund, vor ein paar Monaten war sie hier im Haus, sie selbst hatten sie gesehen und mit ihr gesprochen, sie hatte nach mir gefragt. Und meine Stiefmutter?, wollte ich auch noch wissen und erfuhr: «Na ja, sie hat inzwischen wieder geheiratet.» – «Ach», forschte ich weiter, «wen denn?», und da sind sie wieder über den Namen gestolpert. Der eine hat gesagt: «Irgendeinen Kovács, wenn ich mich nicht irre», der andere: «Nein, nicht Kovács, eher Futó.» Ich habe gesagt: «Sütő», und auch jetzt nickten sie erfreut und waren nun ganz sicher: «Richtig, Sütő, natürlich» – genauso wie gerade zuvor. Sie verdanke ihm viel, «eigentlich alles», sagten sie dann: Er habe «das Vermögen hinübergerettet», er habe «sie in den schweren Zeiten versteckt» – so haben sie es formuliert. «Vielleicht», sann Herr Fleischmann noch ein wenig nach, «hat sie es ein bisschen eilig gehabt», und dem stimmte auch der alte Steiner zu. «Aber letzten Endes», meinte er noch, «ist das verständlich», was dann wieder der andere Alte zugab.
    Dann saß ich noch ein Weilchen bei ihnen herum, weil ich schon lange nicht mehr so gesessen hatte, in einem bordeauxrot bezogenen, weichen Samtfauteuil. Auch Frau Fleischmann war inzwischen zurückgekommen und hatte auf einem weißen Porzellanteller mit Zierrand Schmalzbrote gebracht, mit Streupaprika und dünnen Zwiebelringen verziert, denn sie erinnerte sich, dass ich das früher sehr gern gemocht hatte, was ich auch sogleich bezüglich der Gegenwart bekräftigte. Unterdessen erzählten die beiden Alten, «ja, auch hier zu Hause» sei es «nicht leicht» gewesen. Ihr Bericht gab mir den Eindruck eines wirren, verwickelten und nicht nachvollziehbaren Geschehens von nebelhaften Umrissen, die eigentlich nichts so recht erkennen und verstehen ließen. Es war mehr die häufige, fast schon ermüdende Wiederholung eines Wortes, was mir an ihrer Litanei auffiel, ein Wort, mit dem sie jede neue Wende, jede Veränderung, jede Bewegung bezeichneten: So «kamen» zum Beispiel die Judensternhäuser, «kam» der fünfzehnte Oktober, «kamen» die Pfeilkreuzler, «kam» das Ghetto, «kam» die Sache am Donau-Ufer, «kam» die Befreiung. Nun und dann war da der übliche Fehler: Als hätte dieses ganze verwischte, in Wirklichkeit unvorstellbar erscheinende und auch in den Einzelheiten – so wie ich sah – für sie nicht mehr vollständig nachvollziehbare Geschehen nicht in der gewohnten Abfolge von Minuten, Stunden, Tagen, Wochen und Monaten stattgefunden, sondern gewissermaßen auf einmal, irgendwie in einem einzigen Wirbel, Taumel, etwa auf so einer merkwürdigen, unerwartet in eine Ausschweifung ausartenden Nachmittagsgesellschaft, wo die Teilnehmer – weiß Gott, warum – plötzlich alle aus dem Häuschen geraten und zuletzt überhaupt nicht mehr wissen, was sie tun. Irgendwann sind sie dann verstummt, und nach einer kurzen Stille hat der alte Fleischmann auf einmal die Frage an mich gerichtet: «Und was für Pläne hast du für die Zukunft?» Ich war etwas überrascht und habe gesagt, daran hätte ich noch nicht so recht gedacht. Da regte sich auch der andere Alte und beugte sich auf seinem Stuhl zu mir. Auch die Fledermaus erhob sich wieder und ließ sich diesmal auf meinem Knie nieder statt auf meinem Arm. «Vor allem», sagte er, «musst du die Gräuel
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