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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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man dann alles weiß, hat man auch alles bereits begriffen. Und indes man alles begreift, bleibt man ja nicht untätig: Schon erledigt man die neuen Dinge, man lebt, man handelt, man bewegt sich, erfüllt die immer neuen Forderungen einer jeden neuen Stufe. Gäbe es jedoch diese Abfolge in der Zeit nicht und würde sich das ganze Wissen gleich dort auf der Stelle über uns ergießen, so hielte es unser Kopf vielleicht gar nicht aus, und auch unser Herz nicht – so versuchte ich, es für ihn ein wenig zu beleuchten, worauf er aus seiner Tasche eine zerfledderte Zigarettenschachtel hervorklaubte und auch mir eine der zerknitterten Zigaretten hinhielt, die ich ablehnte, und nach zwei tiefen Zügen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, so, vorgebeugt und ohne mich anzuschauen, sagte er mit einer etwas klanglosen, dumpfen Stimme: «Ich verstehe.» Andererseits, fuhr ich fort, sei da gerade der Fehler, ich könnte sagen der Nachteil, dass man die Zeit auch irgendwie verbringen muss. Zum Beispiel habe ich – erzählte ich ihm – Gefangene gesehen, die schon vier, sechs oder auch zwölf Jahre im Konzentrationslager waren – oder genauer: noch da waren. Nun aber haben diese Menschen all die vier, sechs oder zwölf Jahre, das heißt im letzteren Fall zwölf mal dreihundertfünfundsechzig Tage, das heißt zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig Stunden, und noch weiter zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig mal … und das Ganze zurück, in Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen: also dass sie es von A bis Z irgendwie hinter sich bringen mussten. Wiederum andererseits, so fügte ich hinzu, mochte gerade das ihnen geholfen haben, denn wenn diese ganze, zwölf mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig mal sechzig mal sechzig genommene Zeit auf einmal, auf einen Schlag über sie hereingebrochen wäre, dann hätten sie es nicht ausgehalten – so wie sie es auf die Art eben doch ausgehalten haben –, dann hätten sie es weder körperlich noch geistig verkraftet. Und da er schwieg, habe ich noch hinzugefügt: «So ungefähr muss man es sich vorstellen.» Worauf er, in der gleichen Weise wie vorhin, nur jetzt statt der Zigarette, die er inzwischen fortgeworfen hatte, das Gesicht mit beiden Händen haltend, mit einer wohl dadurch noch dumpferen, erstickten Stimme sagte: «Nein, das kann man sich nicht vorstellen», und ich meinerseits sah das auch ein. Ich dachte bei mir: Nun, das wird es wohl sein, warum sie stattdessen lieber von Hölle sprechen, wahrscheinlich.
    Dann aber hat er sich bald wieder aufgerichtet, auf seine Uhr geschaut, und sein Ausdruck veränderte sich. Er ließ mich wissen, er sei Journalist, und zwar – wie er hinzufügte – «bei einer demokratischen Zeitung», und da erst bin ich darauf gekommen, an wen mich der eine oder andere seiner Sätze schon die ganze Zeit von ferne erinnerte: an Onkel Vili – freilich, das musste ich zugeben, mit dem Unterschied, auch an Glaubwürdigkeit sozusagen, den ich erkennen müsste, wenn ich etwa die Worte und vor allem die Taten und den Eigensinn des Rabbi beispielsweise mit denen von Onkel Lajos vergliche. Dieser Gedanke erinnerte mich auf einmal daran, brachte es mir eigentlich erst jetzt wirklich zum Bewusstsein, dass ein Wiedersehen wahrscheinlich bald bevorstand, und so folgte ich den Sprüchen des Journalisten nur noch mit halbem Ohr. Er würde – so sagte er – den Zufall unserer Bekanntschaft gern zu einem «glücklichen Zufall» machen. Er schlug vor, wir sollten einen Artikel schreiben, eine «Artikelserie» beginnen. Die Artikel würde er schreiben, aber ausschließlich aufgrund meines Berichts. So würde ich auch zu ein wenig Geld kommen, das mir auf der Schwelle zum «neuen Leben» gewiss von Nutzen sein würde, auch wenn er – so fügte er mit einem irgendwie um Verzeihung bittenden Lächeln hinzu – nicht sehr viel «anbieten könne», weil das Blatt noch neu sei und «vorerst auf einer schwankenden finanziellen Grundlage» stehe. Aber im Augenblick, befand er, sei sowieso nicht das die Hauptsache, sondern vielmehr, «die noch blutenden Wunden zu heilen und die Schuldigen zu bestrafen». Vor allem aber müsse man «die öffentliche Meinung aufrütteln» und «Apathie, Gleichgültigkeit, ja Skepsis» ausräumen. Gemeinplätze würden dabei nicht helfen, sondern es gehe, so sagte er, darum, die Ursachen aufzudecken, es gehe um die Wahrheit, welch «schmerzliche Prüfung» es auch bedeute, ihr ins Gesicht zu schauen.
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