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Rocking Horse Road (German Edition)

Rocking Horse Road (German Edition)

Titel: Rocking Horse Road (German Edition)
Autoren: Carl Nixon
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einzugravieren. Doch gab es niemanden sonst, dem sie hätte gehören können, und natürlich sah sie haargenau so aus wie die auf dem Foto.
    Alles in allem ist es ein sehr gutes Foto von Lucy. Wir denken gerne, daß sie sich unter anderen Umständen sicher gefreut hätte, es so oft abgedruckt zu sehen.
    In diesem Sommer war es von Anfang November an heiß gewesen. Zu der Zeit, als Lucy Asher ermordet wurde, sprach niemand mehr von einem perfekten Sommer; jeder klagte über die Trockenheit. Was immer es an Wiesen auf The Spit gab, war braun geworden und abgestorben, noch bevor die Sommerferien angefangen hatten, die vertrockneten Halme wurden vom Ostwind auf das Wasser der Lagune geblasen. Nur die Kohlbäume schienen zu gedeihen. Sie hatten die langen heißen Tage vorhergesehen und bereits Ende Oktober über und über weiße Blüten ausgetrieben. Beinahe allem anderen hatte die Sonne das Leben ausgesaugt.
    Außer dem Meersalat: Der vermehrte sich explosionsartig. Ob es der hitzebedingte Anstieg der Wassertemperatur in der flachen Lagune war oder der Zufluß aus den Oxidationsteichen (wir nannten sie die Kackebecken) an ihrem Westende, jedenfalls breitete sich der Meersalat aus wie nie zuvor. Limonengrün und knittrig an den Rändern, wie glitschige Kartoffelchips, bildete er bei Ebbe einen dicken Teppich auf den großen Schlickflächen der Lagune. Der Meersalat drohte sogar die tiefsten Kanäle zu ersticken. Er entzog dem Wasser den Sauerstoff. Tote Flundern und Heringe trieben auf dem Wasser. Warntafeln wurden aufgestellt, daß man keine Krustentiere essen sollte.
    Es gab bittere Leserbriefe an die Zeitungen zum Versagen der Gemeindeverwaltung, und zahlreiche Theorien über die plötzliche Blüte des Meersalats wurden entwickelt. Wir wußten bloß, daß er stank wie sonst nichts auf der Welt. Während der heißen Tage und Nächte lag der Gestank drückend über The Spit. Der Mief der Lagune bei Ebbe durchzog diesen ganzen Sommer. Es war der Geruch nach verfaulendem Meersalat, Schlick und toten Fischen, um deren Fleisch sich nachts ganze Armeen von Krabben stritten, man meinte ihre Beine und Scheren rasseln und knacken zu hören. Der Gestank drang uns in die Nasen, wenn wir im Bett lagen und an Lucy dachten. Manchmal wurde es so schlimm, daß wir ihn auf der Zunge schmeckten. Wir verloren den Appetit und konnten nicht schlafen.
    Ein paar von uns schmierten sich abends Wick unter die Nase. Dann schliefen wir eingehüllt in den Krankheitsgeruch unserer Kindheit ein und wurden in eine Zeit zurückversetzt, als unsere Mütter uns warm ins Bett packten und heilende Zaubersprüche in unser Fieber murmelten. Eine Zeit, an die wir uns mit fünfzehn noch deutlich erinnerten, ohne richtig zu begreifen, daß sie für immer vorbei war.
Die schiere Menge an Material, das wir über die Jahre gesammelt haben, ist inzwischen zum Problem geworden. Als wir Mitte Zwanzig waren, hatten wir bereits genug Papierkram zusammen, um zwei Aktenschränke zu füllen: Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, Polizeiberichte und Transkriptionen von allen Interviews, die wir geführt haben (die Tonbänder haben wir natürlich auch). Auch die größeren Gegenstände haben wir auf bewahrt, die Fotografie von Lucy, ihre Trophäe, die beiden Flöße. Es gibt Hunderte Fotos. Wir haben auch eine kleine Bibliothek mit Büchern über Polizeiarbeit und Forensik, über DNA und Fingerabdrücke und jede Menge über berühmte Verbrechen und ihre Aufklärung. Praktisch alles, worauf wir in den vielen Jahren gestoßen sind und das vielleicht von Wert oder Bedeutung ist.
    Ursprünglich war Alan Penny für das Archiv verantwortlich. Aber Al heiratete ein Mädchen aus der Gegend, als er erst 21 war, und sie bekamen kurz nacheinander drei Töchter (wenn man genau rechnet, kam die erste sogar ein bißchen zu früh nach der Hochzeit). Als sie mit der dritten Tochter schwanger war, erklärte sie Al, daß sie in ihrem Zuhause nicht länger all diesen »morbiden Müll« herumliegen haben wollte. Also kamen wir alle eines Sonntags vorbei und schafften unter ihrem strengen Blick das ganze Archiv zu Matt Templeton. Matt bewahrte die Sachen mehrere Jahre in einem unbenutzten Zimmer seines Hauses auf. Und als er geschieden wurde – zum ersten Mal –, übernahm Grant Webb die Sachen für einige Zeit.
    Die meisten von uns haben mindestens ein oder zwei Jahre mit dem Material gelebt. Es ist schon komisch, das alles bei sich zu Hause zu haben. Plötzlich ertappt man sich um
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