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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Autoren: Lars Gustafsson
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verließ das Gymnasium mit einem Ehrenstipendium, wurde an der Universität als junges Genie begrüßt, studierte in Uppsala und Oxford die ausgefallene, aber notwendige Wissenschaft, die sich in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung Philosophie nennt, wurde aber von Verzagtheit ergriffen angesichts dieses ganzen Handwerks, schrieb unter dem Einfluß einer unklaren, einer unglücklichen Liebe einen Roman, wurde plötzlich begrüßt als Teil des besonderen, unterbezahlten und zweifelhaften Betriebs, den man die schwedische Literatur nennt, schrieb weitere Bücher, noch viele weitere, wurde von einigen Kritikern als Genie gefeiert, von anderen für einen Dorfidioten gehalten, zwei Auffassungen, die sich beide mit dem Bild decken, das ich selbst von meinem Leben habe, bekam Freunde und Feinde, schrieb Tausende von Zeitungsartikeln, geriet in eine immer unklarere Beziehung zu meinem Professor und zu den geheimnisvollen Machtsphären der Universität und faßte vor neun Jahren Wurzel bei der klugen Familie Bonnier, in deren Verlagshaus ich eine Freistatt gefunden habe.
    Ich weiß – das erklärt gar nichts, erklärt auch nicht, warum ihr mich in diesem düsteren Wald findet.
    Die dunkle Decke aus schwarzgrauem Beton vibrierte unter den Schallwellen der riesenhaften Lötlampen. Um mich herum drängelten sich Geschäftsleute mit Specknacken, uralte, krumme Damen, amerikanische Touristen, ein Herr mit einem Papagei in einem Käfig und kleine, erschreckend vitale Kinder, die ihre Puppen und Bären mit den Händen umklammert hielten.
    So viele entschlossene, zielstrebige Menschen, alle in ernsthaften Angelegenheiten unterwegs! Und ich selbst kaum mehr als eine sinnlose Posse.
    Und von der Einsamkeit wie von einem Glasgefäß umgeben, nicht unähnlich einem mittelalterlichen Homunculus in seinem Kolben, den gerade ein unvorsichtiger Alchimist durch sein allzu leichtferti-ges Spiel mit Säuren und Scheidewässern erzeugt hat, in einem Zustand jenseits von Angst und Hoffnung, ließ ich mich im Flugzeug auf einem Fensterplatz nieder, zusammengerollt wie ein Embryo auf dem allzu engen Sitz, umgeben von dem Geruch durchnäßter Wollsachen.
    So zusammengekrümmt und in mich gekehrt lieferte ich mich unbekannten Mächten aus, wie Flugpassagiere sich immer im Augenblick des Starts unbekannten Mächten mehr oder weniger ausliefern.
     
    Immer noch zusammengekauert und geschüttelt von einer Kälte, die eher von innen kam als aus der kleinen Ventilationsdüse an der Decke über mir, sah ich in zehntausend Meter Höhe, mit der dicken bleigrauen Wolkendecke im Dunkel unter mir, den zarten Schimmer der Abendröte die dünne Luft färben.
    Und da im gleichen Augenblick, hörte ich eine tiefe Altstimme neben mir
    – Ah!
    sagen, mit einem so deutlichen Ausdruck ästhetischen Genusses, daß dasselbe Gefühl sich einen Moment lang auf mich übertrug. Und ich erinnerte mich ganz genau, daß ich früher einmal, als ich noch den Namen Lars Gustafsson trug und mit menschlichen Lungen atmete und nicht wie jetzt embryonal zusammengekauert in einem Glaskolben reiste, etwas Ähnliches gefühlt hatte und daß es wie ein Rausch gewesen war.
    Ich blickte vorsichtig nach rechts und konnte eine rotblonde Haargardine ausmachen, die jetzt im letzten Abendlicht einen deutlichen Goldton annahm.
    Die Atmosphäre um uns herum hatte sich merkbar verändert.
    Was heißt »uns«?
    Von der Dame neben mir strahlte geheimnisvoll eine dunkle, eine erdbraune, eine mütterliche Kraft auf mich aus, als sei der Erdgeist selbst in weiblicher Gestalt, heraufbeschworen von meiner eigenen Leere, meiner eigenen Verzweiflung, mir zu Hilfe gekommen.
    Meine nackte, trockene, harte Müdigkeit begann plötzlich in eine gewöhnliche, triviale Schläfrigkeit überzugehen. Ich seufzte tief auf und rollte mich in meiner embryonalen Haltung noch fester, noch hilfloser zusammen, aber diesmal hatte ich den Kopf leicht an die Schulter der fremden, ungesehenen Dame gelehnt, die eine dunkelbraune, flauschige Strickjacke trug.
    Durch mein offenes Ohr strömte eine milde, geheimnisvolle Wärme. Und unter dem Ohrläppchen konnte ich deutlich die äußerste Spitze ihres Schlüsselbeins wahrnehmen und schwach, sehr schwach, aber doch spürbar, das ferne Schlagen ihres starken Herzens.
     
    Ich schloß die Augen und ließ mich im Halbschlaf durch das Luftmeer tragen, von dieser unbekannten Mutter umschlossen und geborgen wie ein richtiger Embryo in dem Körper seiner ihm ebenso unbekannten
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