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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Autoren: Lars Gustafsson
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dieses nazistischen Gebäudes, das einst der Architekt Ernst Sagebiel entworfen hatte. Bald würde kein Flugzeug mehr landen können.
    Noch ganz benommen wickelte ich mir den Schal zweifach um den Hals und fror in meinem leichten Herbstmantel, fror und bewachte meine Reisetaschen und Aktenmappen, meine liebe, erfahrene, mütterliche braune Aktenmappe, die mich auf so vielen Kongressen in so vielen Teilen der Welt begleitet hat, auf so vielen Reisen im Triebwagen durch die Ebene von Uppland, bei so vielen ländlichen Vortragsveranstaltungen, so vielen Universitätsseminaren, und die schweigend so viele fremde Manuskripte in sich aufgenommen hatte und dazu noch die kleine schwarze Tasche für den Rasierpinsel, den Rasierapparat, Zahncreme und Kopfwehtabletten. Ja, diese braune Aktenmappe mit dem unbegrenzten Fassungsvermögen hatte sogar einmal als Angeltasche bei einer Forellentour zum glasklaren Panther Lake in The Adirondacks gedient, und einmal, als sie auf dem Rücksitz eines israelischen Taxis stand, hatte sie nach einem Überfall der Al Fatah auf die West-Jordanbank das 9-mm-Geschoß einer Handfeuerwaffe weich aufgefangen und es, leicht verformt und gequetscht, wieder von sich gegeben. Als ich nun diese Aktenmappe und meine große graue Reisetasche bewachte, hatte ich plötzlich noch eine unter meine Obhut bekommen, eine kleinere aus solide gegerbtem Rindsleder, die sich vertrauensvoll an meine große graue lehnte, während ihre Besitzerin, die marxistische Philosophiedozentin Johanna Becker, auf dem labyrinthischen Parkplatz verschwand.
    Wer war sie? Wer hatte im letzten Augenblick diese gütige, rettende Macht zu meiner Hilfe geschickt? Sollte ich mich geirrt haben? Existierten trotz allem Engel?
    Und welcher furchtbaren Bedrohung war ich ausgesetzt, welche übermenschlichen Aufgaben erwarteten mich, da man zu meinem Schutz eine so außergewöhnliche Maßnahme ergriffen hatte? Und wer war »man«?
    Und was meinte ich übrigens mit diesem »im letzten Augenblick«? Meinte ich es ernst?
    Ich hatte das unklare Gefühl, einer Katastrophe entronnen zu sein, ohne daß ich herausfinden konnte, worin diese eigentlich hätte bestehen können.
    So wartete ich am Rand des Bürgersteigs, fünf, zehn, fast fünfzehn Minuten lang. Der Nebel wurde dichter. Plötzlich fiel mir auf, daß der Verkehr an dem großen Flugplatz, der eben noch so lebhaft war, unglaublich schnell abgenommen hatte, seit das Landeverbot bekannt geworden war. Nur ab und zu tastete sich ein vereinzeltes Taxi durch den Nebel, die Scheinwerfer verdunkelt von dem Dunstkreis millionenfacher, plötzlich aufleuchtender Feuchtigkeitströpfchen.
    Mir wurde die plötzliche Veränderung bewußt: beim Einflug nach Berlin war das Wetter noch klar gewesen. Jetzt war es nach neun Uhr, und der Nebel wurde dichter. In seinem großen, leeren Haus an der Fregestraße wartete sicher mein Freund E. seit einer halben Stunde. Hätte ich gleich ein Taxi genommen, wäre ich schon dort...
    Schritte kamen näher und verhallten im Nebel. Manchmal schienen sie von weither zu kommen, dann war es wieder, als seien sie direkt hinter meinem Rücken. Mit angespannten Sinnen spähte ich in das Dunkel. Mit klammen Fingern stopfte ich meine Pfeife und zündete sie an.
    Es kam mir in den Sinn, daß ich so unvorsichtig gewesen war, beim Aussteigen auf der Gangway laut und deutlich zu sagen, zu wem ich unterwegs war. In Berlins revolutionärer Welt ist E. kein unbedeutender Mann, ebenso verhaßt bei der CIA wie bei den kleinen fanatischen Agitationsgruppen am Rande der APO. Die geheimen Informationen, die er über Kuba besitzt, könnten eine ganze Abteilung des State Department monatelang beschäftigen.
    Und ich selbst? Ich selbst, unverbesserlicher Kleinbürger, Hypochonder, Lyriker: hatte ich nicht tatsächlich in vielen revolutionären Zellen persönliche Freunde, Kontakte, Einblicke; Guerillakämpfer aus Goa, unterwegs über Stockholm, um sich der FRELIMO in Angola anzuschließen, spanische Marxisten, die Anarchistische Allianz in Malmö, die Revolutionäre Förderation in Oslo, die Black-Panther-Gruppen in London, die entschlossene und unsentimentale Gesellschaft für Sozialen Fortschritt in der Odengatan, die scheue und geheimnisvolle Väster Våla Kommunale Befreiungsgruppe mit ihren schweigsamen Männern in Regenmänteln, die manchmal aus Mooren oder schmalen Bachbetten in der Gegend hinter dem Landsberg auftauchten und mich und meinen Hund prüfend musterten, bevor sie mich mit
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