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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Autoren: Lars Gustafsson
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geregelte Ordnung der Welt. Die präzise geeichten Mechanismen der Kompromisse, der Lügenmaschinerien, der schändlichen Absprachen, mit denen die Macht herrscht und der erste Frost fällt, die empfindlichen Uhrwerke, die im Inneren der Staaten die Zeit bemessen, waren für ein paar kurze Jahre in der Mitte des Dezenniums aus dem Gleichgewicht geraten. 64 veränderten sich sogar unsere Träume; das Bild Nixons verschmolz mit dem Bild von Rudolf Hess, der noch in seiner abgelegenen Zelle gefangen saß. Bei unserem Erwachen änderte sich der Tonfall.
    1967 wurde es allen bewußt, daß der Traum und die Wirklichkeit wiederum ein Zwiegespräch begonnen hatten. Es war die Zeit der Ketzer, der geschlossenen Gesellschaften, der geheimen Sekten, der kollektiven Großfamilien. Oh, wie es stürmte!
    In der ganzen Welt stürmte es: es pfiff durch alte morsche Gebäude! In Asien brannten und tobten die Kriege, und der Geruch nach verbrannten Wäldern, verbrannten Häusern wehte mit dem starken, gleichmäßigen Wind über die Hügel Asiens. Die mörderischen Geschwader, die einst das unschuldige Dresden angeflogen hatten, flogen nun Tag und Nacht ihre Angriffe auf Hanoi, es war eine Zeit für Mörder, eine mörderische Zeit, eine blutige, entsetzliche Zeit, aber auch eine Zeit der Hoffnung, eine glückliche Zeit der Verneinung.
    Wir hingen an unseren Fernsehapparaten und sahen, wie unsere Welt sich veränderte, und zuinnerst begannen wir zu ahnen, daß der kleine Schimmer von Wahnsinn, die kleine, unterdrückte gelbe Flamme der Schizophrenie, die in uns allen brennt, nicht vergebens gewesen war, daß der kleine Rest von Wahnsinn, den wir durch die Kindheit, durch die Wehrpflicht, durch die kultivierten Seminare an alten Universitäten mit eichengetäfelten Wänden hindurch gerettet hatten, doch irgendwie im Recht war. Daß er da war, weil wir ihn einmal brauchen würden.
    Es war eine dieser Zeiten, in der die Schizophrenie zu ihrem Recht kommt, weil sie, nur sie, dem Zustand der Welt entspricht.
    Mächtig erhoben sich alte, fast vergessene Schriften aus dem Dampf der Lokomotiven und dem Kohlenstaub des vergangenen Jahrhunderts: Marx, Bakunin, Tschernyschewski, und hinter ihnen ein noch längeres Gefolge, das fast kein Ende nehmen wollte, ein mächtiger Zug von Geistern und Ideen.
    Wir sahen, wie die japanischen Studenten mit ihren langen starken Knüppeln Sturm liefen, wie sie sich auf dem Schlachtfeld der Straße gegen die Übermacht schlugen, nicht zu Hunderten, sondern zu Zehntausenden. Und in einem Land nach dem anderen liefen die schwarzen Brigaden der Polizei mit ihren Wasserwerfern, Tränengasbomben, Panzerwagen Sturm. Am 20. Dezember 1967 wurden die Demonstranten in einem Hinterhalt in der Barnhusgatan eingekesselt, es war die Nacht, in der man Jan Myrdal seine Brille herunterschlug, die Nacht, in der die junge schwedische Generation ihre Lektion in Gemeinschaftskunde auf eine für die Zukunft entscheidende Art auslernte und abschloß. Überall marschierten die schwarzen Polizeiarmeen, die Panzerwagen rasselten, die Helikopter warfen ihre seltsamen insektenhaften Schatten auf Harvard und Cornell, auf Frankfurt und Amsterdam. In Berlin wurde die dreiunddreißigjährige Dozentin für theoretische Philosophie Johanna Becker von einem Polizeiknüppel bewußtlos geschlagen, der gegen ihre rechte Schläfe gerichtet war, aber zu weit hinten traf, um den dünnen Schädelknochen zu zerschmettern.
    Da die Gruppe, zu der sie gehörte, in einer wilden Flucht begriffen war, ließ man sie im Rinnstein liegen und begnügte sich damit, nach ihr zu treten. Am Anfang der fünfziger Jahre, als sie auf ähnliche Weise bei einer Demonstration in Paris zusammengeschlagen wurde – damals ging es um Algerien –, hatten freundliche Menschen sie fast unmittelbar darauf in den Schutz eines Treppenhauses gezogen. In Berlin gibt es diese Tradition nicht.
    Ich stelle mir ihr wunderbares rotblondes Haar vor, wenn sie da liegt, von Blut und Schmutz befleckt. Dieses Haar habe ich gestreichelt.
    Und das Frühjahr 1968! Das Frühjahr, in dem der adrette schwedische Lektor an der Sorbonne, der geistreiche Privatmann Jan Ifvarsson auf die Straße hinaustritt und seinen netten kleinen BMW ordentlich und unwiderruflich in eine Barrikade eingebaut findet, die gerade von der Gendarmerie mit Granatfeuer dem Erdboden gleichgemacht wird! Das Frühjahr, in dem Traum und Wirklichkeit einander so nahe kamen, daß es einen Augenblick, lang schien, als würde sich
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