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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Autoren: Lars Gustafsson
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ebensogut einen Flug nach Rom, Tel Aviv, Karachi oder Söndre Strömsfjord auf Grönland buchen können – es hätte keinen Unterschied gemacht. Ich hätte auch zur Autobahn gehen und nach Heidelberg trampen können (wenn meine Tasche nicht so schwer gewesen wäre, aber die hätte ich andererseits leicht in der Wartehalle des Flugplatzes stehenlassen können), um mich in irgendeinem schäbigen Motel an der Autobahn Richtung Bonn oder Karlsruhe als Kellner anstellen zu lassen und zu vergessen, wer ich bin und wer ich war.
    In regelmäßigen Abständen wurde die Decke der Wartehalle von den explosionsartigen Geräuschen der Jetmaschinen erschüttert, die über mich hinwegflogen. Und mit sinnlosem Neid dachte ich an die gewaltige Kraft, die freigesetzt die großen Motoren der Boeingmaschinen antrieb, an die freigesetzten Flammen von expandierendem Gas in ihren Verbrennungskammern, an die ungeheure Geschwindigkeit der mit Karbid legierten stählernen Schaufelräder im Inneren ihrer Motoren.
    Bis zum Abflug der Maschine war es noch so lang hin, daß man nur zögernd meine Tasche angenommen hatte. Ich saß zusammengesunken auf einem Stuhl in der Wartehalle, eine ungeöffnete Ausgabe der Zeit auf dem Schoß, und überlegte, ob es überhaupt noch einen Sinn für mich hätte, zu dem kleinen Tabakladen links neben dem Eingang der Wartehalle zu gehen und ein rotes, altmodisches Päckchen Rothändle zu kaufen, diese starken Zigaretten, die man nur in Deutschland bekommt und die mit ihrer bitteren Nikotinladung das Wurmblut in meinen Adern noch in einem zumindest bewegungsähnlichen Zustand halten konnten.
    Dies war der Zustand am Montag, dem 13. Oktober 1969, um 16:35 nachmittags, mitteleuropäischer Zeit.
    Hier beginnt nun ein Roman. Gott weiß, wie er enden wird!
     
    Dreiunddreißig Jahre alt, also inmitten meines Lebensweges, wie es früher hieß, fand ich mich in einen dunklen und finsteren Wald versetzt, nein, ein Wald war es nicht, sondern etwas, das einem Wald glich, ein dunkler und düsterer Ort, kalt von all dem Beton, in Kästchen eingeteilt, die zu verschiedenen gewaltigen Flugzeugriesen führten, und wo die Decke von dem ungeheuren Spiel der Kräfte erschüttert wurde, weil der rechte Weg abhanden gekommen war.
    Hatte es ihn jemals gegeben? Ich weiß nicht. Der rechte Weg, ein Weg für mich? Und welcher Weg ist heute der rechte?
    Niemand soll mir mangelnde Gewissenhaftigkeit vorwerfen.
     
    Die Wege, die ich ging, bin ich gründlich gegangen. Ich habe immer die Karten zu Rate gezogen, die zur Hand waren, ich habe nach bestem Vermögen versucht, die Abweichungen des Kompasses in getrennten Kraftfeldern auszugleichen.
    Im Jahr 1936 geboren, von stärkeren Klassenkameraden in einer riesigen ziegelroten Volksschule mißhandelt und malträtiert, als Einzelkind in einer exzentrischen Familie von Einsamkeit geplagt, für dumm bis zur Lernunfähigkeit gehalten, als vermutlich geistesschwach zum Schularzt geschickt und der ganzen Verachtung ausgesetzt, die einem kraftlosen und vielleicht auch debilen Kind zukommt, veränderte ich mich rasch, als in der Pubertät ein heimliches und der Wissenschaft noch unbekanntes Gift sich in einem versteckten Winkel meines Körpers bildete und mein großes träges Gehirn befruchtete, das einen allzu großen Raum beanspruchte, um von einem Anstaltsinsassen oder einer verblödet grinsenden Hilfskraft in dem Kartoffellager eines einsamen Vorstadtviertels herumgeschleppt zu werden. Und jenes Gift befruchtete diesen trägen Gallertklumpen, entzündete ihn, wie man eine Lötlampe entzündet.
    An die Zeit vor der Pubertät (sie begann übrigens ein paar Jahre früher als bei den Schulkameraden, und ich erschreckte sie beim Turnen fast zu Tode durch den plötzlichen starken Haarwuchs um meine Männlichkeit herum) habe ich dunkle, runde, wolkenähnliche Erinnerungen, in die hie und da, wie eine Nadel in einem Polster, etwas Scharfes eingebettet ist, ein Frosch aus grünem Blech, der hüpfen konnte, wenn man ihn aufzog, meine Angst vor Motorrädern, eine Schlange, die sich durchs Gras windet, wie ich einmal fast bis zur Taille in einem vom Regen aufgeweichten lehmigen Acker versank und von einem vorbeikommenden freundlichen Onkel gerettet wurde. Nach der Pubertät ist jede Erinnerung glasklar; eine gleichmäßig helle Beleuchtung war in den Raum gekommen. Von meiner Einsamkeit nach dieser seltsamen Veränderung ebensosehr geplagt wie davor, wurde ich nun in der Schule als großes Licht behandelt,
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