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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
Autoren: Ilkka Remes
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Trommelfellen, und das Zittern des Rumpfes war so stark, dass die Augen auf nichts fokussieren konnten. Durch die enorme Beschleunigung wurden die Passagiere mit zermalmender Kraft in die Sitze gedrückt. Fast senkrecht stürzte das Flugzeug nach unten. Die gelben Sauerstoffmasken fielen aus der Deckenverkleidung und bogen sich an ihren Schläuchen nach hinten, als bliese ihnen ein Orkan entgegen.
    Aus dem Cockpit ertönte das durchdringende Heulen der Alarmsirene, und eine mechanische Stimme sagte unablässig: »Stall! Stall! Stall!« In der vorderen Kombüse wurde ein schwerer Servierwagen aus der Verankerung gerissen und schoss mit unfassbarer Wucht durch den Gang. Hinter ihm her rollte ein am Ellbogen amputierter Unterarm, den der Wagen im Vorbeirasen einem Passagier wie mit der Guillotine abgetrennt hatte.
    Das hysterische Kreischen der Passagiere war bei dem Lärm nicht zu hören, aber es war an den Gesichtern zu sehen, in denen panisches Entsetzen loderte. Das Zittern wurde immer stärker, das Flugzeug schien jeden Moment zu zerbersten, da wurde der Sturzflug abrupt abgefangen. Während einiger seltsam ruhigen Sekunden nahm der Lärm der Motoren ab, und man konnte das Schreien der Menschen hören. Im selben Moment explodierte das Dröhnen der Motoren aber schon wieder, und die Maschine richtete sich mit schwerem Zittern nach oben und ging in senkrechten Steigflug. Tina kniff die Augen zu. Der betäubende Lärm der Turbinen und die wahnsinnige Vibration verursachten einen höllischen Schüttelfrost, der ihren Körper derart malträtierte, dass die inneren Organe zermahlen und zerrieben zu werden drohten. Sie hatte das Gefühl, sich am Brennpunkt immenser Kräfte zu befinden und von ihnen zermalmt zu werden.
    Im Cafe in Cannes sah Christian auf seine Uhr. »Wir müssen gehen«, sagte er zu Brian. Im Labor würde man sich bereits wundern, wo sie blieben.
    Auf dem Weg zum Auto erkundigte sich Brian nach der Hochzeit, die am nächsten Tag bevorstand, aber Christian antwortete nur einsilbig. Saras Worte hallten noch unschön in seinem Kopf nach.
    Du solltest dich auf Überraschungen gefasst machen, wenn du Tina heiratest. Sara versuchte offenbar alles, um Misstrauen zu säen. Trotzdem war Christian beunruhigt. Sara kannte ihre ehemalige Mitbewohnerin länger als er.
    Christian wusste, dass die Heirat, wenn man es objektiv betrachtete, viel zu früh kam. Hatte Sara also doch recht, war er zu impulsiv, zu jäh in seinen Entscheidungen? Andererseits: Gab es etwas Schrecklicheres, als immer nur den vertrauten und sicheren Weg zu wählen, seine Entschlüsse allein nach den Kriterien der Vernunft des möglichst geringen Widerstandes und der Bequemlichkeit zu treffen? So etwas brachte keine Befriedigung - die konnten einem nur Herausforderungen verschaffen. Um diese aber zu bewältigen, benötigte man einen Willen, und für den wiederum galt, was für das ganze Leben galt: Wenn man ihn nicht benutzte, existierte er nicht.
    Überdreht. Christians Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Saras Vater, ein wohlhabender finnischer Autohändler, war in jungen Jahren als Kartenleser Rallyes gefahren, sogar auf WM-Niveau. Sara war unter Männern aufgewachsen, die ein Faible für Autos hatten, und hatte in diesen Kreisen die erste Bekanntschaft mit Autos wie auch mit Männern geschlossen.
    Während Brian zum Geldautomaten ging, wartete Christian im Schatten der Palmen und sah aufs Meer. Nun war er fast schon fähig, eine gewisse, wenn auch mit Wehmut durchsetzte Freude darüber zu empfinden, dass sein Chef mit einem Schlag sämtliche Termine in seinem Kalender gelöscht hatte.
    Die schlimmste Phobie, die er kannte und die am stärksten sein Leben beeinflusste, war die Angst vor dem Vergehen der Zeit. Die Zeit war das Wichtigste, das er hatte, und er war äußerst pingelig im Umgang mit ihr. Er beneidete Menschen, die keinen Stress hatten, die fähig waren, die Zeit als Zyklus zu sehen, als Abfolge von Jahreszeiten, von Sommer zu Sommer, als regelmäßigen Wechsel von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Für Christian war die Zeit kein Kreislauf, sondern ein lineares Kontinuum, eine Abfolge von einzigartigen Ereignissen. Jeder Tag, der verging, jede Stunde, jede Minute war für immer verloren, jede Sekunde nagte an seinem Leben. Mit Hilfe von Kalender, Uhr und Selbstdisziplin hatte er seine Chronophobie in ein enges Kontrollsystem gezwängt. Er war fähig, nicht in Hektik zu verfallen, auch wenn er verspätet zu einem Termin unterwegs
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