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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan.
Autoren: Carlos Castaneda
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endgültige Reise). Ich rezitierte es.
Und ich werde gehen. Und die Vögel werden bleiben und singen; und bleiben wird mein Garten, mit seinem grünen Baum und seinem weißen Brunnen.
    Jeden Abend wird der Himmel blau und friedlich sein und läuten werden, wie heute abend, die Glocken vom Kirchturm. Sterben werden jene, die mich liebten; 
    und das Dorf wird neu jedes Jahr  und in jener Ecke meines weißblühenden Gartens wird mein Geist heimwehtrunken umherirren... 2
    »Das ist das Gefühl, von dem Genaro spricht«, sagte Don Juan. »Ein Mensch muß Leidenschaft haben, um ein Zauberer zu sein. Ein leidenschaftlicher Mensch hat irdische Habe und Dinge, die ihm lieb sind - und sei es nichts als der Weg, auf dem er wandert. Genau das ist es, was Genaro dir mit seiner Geschichte sagen, wollte. Genaro hat seine Leidenschaft in Ixtlan zurückgelassen: sein Heim, seine Leute, all die Dinge, die ihm etwas bedeuteten.
    Jetzt wandert er in seinen Gefühlen umher; und manchmal, wie er sagt, kommt er beinah in Ixtlan an. Dies ist uns allen gemeinsam. Für Genaro ist es Ixtlan; für dich wird es Los Angeles sein; für mich...«
    Ich wollte nicht, daß Don Juan mir von sich selbst erzählte. Er hielt inne, als habe er in meinen Gedanken gelesen. Genaro seufzte und griff die ersten Zeilen des Gedichts wieder auf.
    »Und ich werde gehen. Und die Vögel werden bleiben und singen.« Ich fühlte, wie eine Welle von Schmerz und unbeschreiblicher Einsamkeit uns drei verschlang. Ich sah Don Genaro an und wußte, daß er, ein so leidenschaftlicher Mann, viele, viele Bindungen des Herzens, viele, viele Dinge gehabt haben mußte, die ihm etwas bedeuteten und die er zurückließ. Ich fühlte ganz deutlich, wie in diesem Augenblick die Erinnerung mit der Gewalt eines Erdrutsches auf ihn einstürzte, und daß Don Genaro nahe daran war, zu weinen.
    Ich wandte schnell den Blick ab. Don Genaros Leidenschaft, seine äußerste Leidenschaft, machte mich weinen.
    Ich blickte zu Don Juan. Er sah mich unverwandt an. »Nur als Krieger kann man auf dem Pfad des Wissens überleben«, sagte er. »Denn die Kunst des Kriegers ist es, den Schrecken, ein Mensch zu sein, und das Wunder, ein Mensch zu sein, miteinander im Gleichgewicht zu halten.«
    Ich sah die beiden an, einen nach dem anderen. Ihre Augen waren klar und voller Frieden. Eine Flut überwältigender Sehnsucht hatte sich in ihnen aufgestaut, und als sie nahe daran zu sein schienen, in leidenschaftliche Tränen auszubrechen, hielten sie die Flut zurück. Einen Augenblick glaubte ich zu sehen. Ich sah die Einsamkeit des Menschen als riesige, erstarrte Woge, zurückgehalten durch die unsichtbare Wand eines Sinnbildes. Meine Trauer war so überwältigend, daß ich mich euphorisch fühlte. Ich umarmte sie.
    Don Genaro lächelte und stand auf. Auch Don Juan stand auf und legte mir freundlich die Hand auf die Schulter. »Wir werden dich hier verlassen«, sagte er. »Tu, was du für richtig hältst. Der Verbündete wird dich am Rand dieser Ebene erwarten.«
    Er wies auf ein dunkles Tal in der Ferne.
    »Wenn du glaubst, daß es für dich diesmal noch nicht an der Zeit ist, dann halte an deiner Verabredung nicht fest«, fuhr er fort. »Es wird nichts gewonnen, wenn man etwas erzwingt. Wenn du überleben willst, mußt du kristallklar und deiner selbst tödlich sicher sein.«
    Don Juan ging fort, ohne sich nach mir umzusehen, aber Don Genaro wandte sich einige Male zu mir um und forderte mich winkend und durch eine Kopfbewegung auf, voranzugehen. Ich schaute ihnen nach, bis sie in der Ferne verschwanden, dann ging ich zu meinem Wagen und fuhr fort. Ich wußte, es war für mich noch nicht an der Zeit, noch nicht.
    *   *   *   *
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