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Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan.
Autoren: Carlos Castaneda
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über Zauberei weiß, bei den Yaqui-Indianern allgemein bekannt ist oder von ihnen praktiziert wird.
    Alle Gespräche, die während meiner Lehrzeit zwischen Don Juan und mir stattfanden, wurden auf Spanisch geführt, und nur durch seine gründliche Kenntnis dieser Sprache war es mir möglich, die komplexen Erläuterungen seines Glaubenssystems zu erfassen. Ich habe mir angewöhnt, dieses System als Zauberei zu bezeichnen und Don Juan einen Zauberer zu nennen, denn dies waren die von ihm selbst gebrauchten Begriffe.
    Da es mir möglich war, den größten Teil dessen aufzuschreiben, was zu Beginn der Lehrzeit gesagt wurde, wie auch alles, was in den späteren Phasen zur Sprache kam, sammelte ich ein umfangreiches Feldmaterial. Um diese Aufzeichnungen lesbar zu machen und dennoch die dramatische Einheit der Lehren Don Juans zu wahren, mußte ich sie redigieren, aber das auf diese Weise Ausgelassene ist, wie ich glaube, unwichtig für das, worauf es mir ankommt.
    Bei meiner Arbeit mit Don Juan beschränkte ich mich darauf, in ihm nur einen Zauberer zu sehen und an seinem Wissen teilzuhaben.
    Bevor ich zum Thema komme, muß ich noch die Grundprämisse der Zauberei erklären, wie Don Juan sie mir darlegte. Für einen Zauberer, sagte er, sei die Welt des alltäglichen Lebens nicht wirklich oder so, wie wir dies annehmen. Für einen Zauberer sei die Wirklichkeit oder die Welt, die wir alle kennen, nur eine Beschreibung.
    Um diese Prämisse zu begründen, gab Don Juan sich alle Mühe, mich davon zu überzeugen, daß das, was in meinen Augen die wirklich vorhandene Welt war, nur eine Beschreibung der Welt sei; eine Beschreibung, die mir seit dem Augenblick meiner Geburt eingehämmert worden sei.
    Jeder, der mit einem Kind in Kontakt komme, erklärte er, sei ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erkläre, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen könne, wie sie ihm erklärt wird. Nach Don Juan haben wir keine Erinnerung an diesen folgenschweren Augenblick, einfach weil wir keinen Bezugsrahmen hatten, in dem wir ihn mit etwas anderem hätten vergleichen können. Doch von diesem Augenblick an ist das Kind ein Mitglied. Es kennt die Beschreibung der Welt; und es erreicht, glaube ich, die volle Mitgliedschaft, wenn es in der Lage ist, alle seine Wahrnehmungen so zu deuten, daß sie mit dieser Beschreibung übereinstimmen und sie dadurch bestätigen.
    Für Don Juan besteht die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens daher aus einem endlosen Fluß von Wahrnehmungsinterpretationen, welche wir, die Individuen, denen eine bestimmte Mitgliedschaft gemeinsam ist, gemeinsam anzustellen gelernt haben. Die Vorstellung, daß die Wahrnehmungsinterpretationen, welche die Welt konstituieren, im Fluß begriffen sind, stimmt mit der Tatsache überein, daß sie ununterbrochen stattfinden und selten, wenn überhaupt, in Frage gestellt werden. Tatsächlich wird die Realität der Welt, wie wir sie kennen, als so feststehend angesehen, daß die Grundprämisse der Zauberei, nämlich daß unsere Realität nur eine von vielen möglichen Beschreibungen ist, kaum eine Chance hat, als ernsthafte These akzeptiert zu werden. Im Fall meiner Lehrzeit kümmerte sich Don Juan glücklicherweise überhaupt nicht darum, ob ich seine Behauptung als seriös akzeptieren konnte, und trotz meines Widerstands, meines Unglaubens und meiner Unfähigkeit, zu verstehen was er sagte, erläuterte er seine Feststellungen immer wieder. Als Lehrer war Don Juan also bestrebt, mir von unserem ersten Gespräch an die Welt zu beschreiben. Meine Schwierigkeiten, seine Begriffe und Methoden zu erfassen, rührten von der Tatsache her, daß die Einheiten seiner Beschreibung meinen eigenen fremd und mit ihnen unvereinbar waren.
    Er war davon überzeugt, daß er mich »Sehen« lehrte, im Gegensatz zum bloßen »Schauen«, und daß der erste Schritt zum Sehen darin bestünde, »die Welt anzuhalten«.
    Jahrelang hatte ich die Vorstellung, »die Welt anzuhalten«, als kryptische Metapher aufgefaßt, die in Wirklichkeit nichts besagte. Erst im Verlauf einer formlosen Unterhaltung gegen Ende meiner Lehrzeit geschah es, daß ich ihre Tragweite und ihre Bedeutung als eines der wichtigsten Elemente von Don Juans Wissen voll erfaßte. Don Juan und ich hatten uns in einer entspannten und unstrukturierten Form über dies und jenes unterhalten. Ich hatte ihm von einem meiner Freunde und von dessen Problem mit seinem neunjährigen Sohn erzählt. Das Kind, das die letzten vier Jahre
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