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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel
Autoren: Bill Bryson
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mir sind es die Yorkshire Dales. Letztendlich kann ich es nicht erklären, denn es gibt selbst in Großbritannien weit eindrucksvollere Landschaften. Aber seit ich die Dales zum erstenmal gesehen habe, bin ich hilflos in sie vernarrt, und sie lassen mich nicht los. Zum Teil liegt es sicher an dem aufregenden Kontrast zwischen den hohen Berghängen mit ihren grenzenlosen Ausblicken und der Üppigkeit der Täler mit ihren gemütlichen Dörfern und grünen Bauernhöfen. Fast überall in den Dales bewegt man sich zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Bereichen. Man kann es wirklich nicht in Worte fassen, so wundervoll ist es. Und dann liegt es natürlich an der behaglichen Atmosphäre der Abgeschlossenheit, die die Berge ringsum vermitteln, dem Gefühl, der Rest der Welt ist weit weg und unerheblich, was man sehr zu schätzen lernt, wenn man hier lebt.
    In außergewöhnlichem Maße ist jedes Dale eine eigene kleine Welt für sich. Ich weiß noch, als wir neu in unserem Tal waren, krachte es in der Straße vor unserem Tor einmal furchterregend, und man hörte Metall scheppern. Ein Auto hatte sich überschlagen. Die Fahrerin war gegen eine Grasböschung geknallt und dann gegen eine Feldmauer gefahren. Das Auto lag auf dem Dach. Ich rannte hinaus und fand eine Frau aus dem Dorf, die verkehrt herum in ihrem Sicherheitsgurt ging, ruhig aus einer Kopfwunde blutete und benommen vor sich hinmurmelte, von wegen, so ginge das ja wohl nicht, sie müßte jetzt zum Zahnarzt. Während ich herumsprang und Hyperventiliergeräusche von mir gab, kamen zwei Farmer in einem Land-Rover und stiegen aus. Sie hievten die Dame vorsichtig aus dem Auto und setzten sie auf einen Stein. Dann stellten sie das Auto wieder richtig hin und schafften es aus dem Weg. Während der eine die Verletzte wegführte, damit sie eine Tasse Tee bekam und seine Frau sich um die Kopfwunde kümmerte, streute der andere Sägemehl auf die Öllache, regelte den Verkehr so lange, bis die Straße wieder völlig frei war, blinzelte mir zu, stieg in seinen Land-Rover und fuhr weg. Das alles ging in weniger als fünf Minuten und ohne Polizei, Krankenwagen oder Arzt vonstatten. Etwa eine Stunde später kam jemand mit einem Traktor, schleppte das Auto ab, und es war, als sei nie etwas geschehen.
    In den Dales gehen die Menschen nämlich anders an die Dinge heran. Zum einen kommen Bekannte direkt ins Haus. Manchmal klopfen sie einmal und rufen »Hallo!«, bevor sie den Kopf zur Tür hineinstecken, aber oft verzichten sie darauf. Es ist schon eine ungewöhnliche Erfahrung, in der Küche am Spülbecken zu stehen, angeregt mit sich selbst zu reden, mit abgewinkeltem Bein einen ziehen zu lassen und sich dann umzudrehen und einen Stapel Post auf dem Küchentisch vorzufinden. Und wie oft habe ich jemanden kommen gehört, bin in Unterhosen in die Speisekammer geflitzt, habe dort gekauert und nicht zu atmen gewagt, während der Besucher rief: »Hallo! Hallo! Jemand zu Hause?«
    Ein paar Minuten trampelt er dann noch in der Küche herum, liest die Zettel auf dem Kühlschrank und hält die Post ans Licht, bevor er schließlich an die Speise-kammertür kommt und leise sagt: »Ich nehme sechs Eier, Bill – geht das in Ordnung?«
    Als wir Freunden und Kollegen in London verkündeten, daß wir in ein Dorf in Yorkshire zögen, machten überraschend viele ein komisches Gesicht und sagten (sinngemäß): »Yorkshire? Was, zu den Menschen dort oben? Wie überaus … interessant.«
    Ich habe nie verstanden, warum die Menschen in Yorkshire den schrecklichen Ruf haben, engstirnig und hartherzig zu sein. Ich habe sie immer als anständig und offen erlebt, und wenn man wissen will, was man für Fehler hat, findet man nirgendwo auskunftsbereitere Menschen. Es stimmt, sie erdrücken einen nicht gerade mit Liebe, was ein bißchen gewöhnungsbedürftig ist, wenn man aus einem geselligeren Teil der Welt stammt, also von überall sonst her. Zieht man im amerikanischen Mittelwesten, wo ich herkomme, neu in ein Dorf oder eine kleine Stadt, strömen alle nur so herbei, um einen willkommen zu heißen, als sei das der glücklichste Tag in der Geschichte der Gemeinde – und alle bringen einen Kuchen mit. Man kriegt Apfelkuchen, Kirschkuchen und Schokoladen-Sahne-Torte. Im Mittelwesten gibt es Leute, die ziehen alle sechs Monate um, nur um in diesen Genuß zu kommen.
    In Yorkshire würde das nie passieren. Aber allmählich, ganz langsam, finden die Bewohner in ihrem Herzen ein Eckchen für den
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