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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel
Autoren: Bill Bryson
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zu erreichen sind. Bedenken Sie einmal, wieviel Platz in der britischen Presse Randfiguren wie den amerikanischen Staatsbürgern Oliver North, Lorena Bobbitt und O. J. Simpson eingeräumt wird – letzterer ein Mann, der einen Sport betreibt, den die meisten Briten eh nicht verstehen, und der dann Werbung für Mietautos machte –, und vergleichen Sie das mit den Nachrichten, die in einem x-beliebigen Jahr aus Skandinavien, Australien, der Schweiz, Griechenland, Portugal oder Spanien gebracht werden. Im Grunde verrückt. Wenn in Italien eine politische Krise ist oder in Karlsruhe Radioak-tivität austritt, bekommt das vielleicht zwanzig Zentimeter auf einer Innenseite. Aber wenn irgendeine Frau in Shitkicker, West Virginia, ihrem Mann den Schwanz absäbelt und ihn pikiert aus dem Fenster schmeißt, dann ist es die zweite Hauptmeldung in den Neun-Uhr-Abendnachrichten, und die Sunday Times mobilisiert ihr »Insight«-Team. Damit ist doch alles gesagt.
    Ich erinnere mich, als ich ungefähr ein Jahr in Bournemouth wohnte und mein erstes Auto gekauft hatte, fummelte ich darin am Radio herum und war erstaunt, wie viele französischsprachige Sender ich hereinbekam. Nach einem Blick auf die Karte staunte ich noch mehr: Ich war näher an Cherbourg als an London. Als ich das am nächsten Tag meinen Arbeitskollegen erzählte, nahmen es mir die meisten nicht ab. Selbst als ich es ihnen auf der Karte zeigte, runzelten sie skeptisch die Stirn und sagten:
    »Nun, entfernungsmäßig mag das ja stimmen«, ganz so, als betriebe ich Haarspaltereien.
    In gewissem Sinn hatten sie natürlich recht. Selbst heute noch bin ich oft perplex, daß man in London ein Flugzeug besteigen kann, und in weniger Zeit als der, die man braucht, um den Aludeckel von dem kleinen H-Milchbehälter zu reißen und den Inhalt über sich und seinen Nachbarn zu verspritzen (und wunderbar, nicht wahr, wieviel Milch diese kleinen Pöttchen enthalten), ist man in Paris oder Brüssel, und alle Leute sehen aus wie Yves Montand oder Jeanne Moreau.
    Das erwähne ich nur, weil mich ein ähnliches Erstaunen ergriff, als ich eines außergewöhnlich klaren, strahlenden Nachmittags am schmutzigen Strand von Calais stand und auf ein sonnenbeschienenes Gebilde am Horizont starrte, das eindeutig die Weißen Klippen von Dover waren. Theoretisch wußte ich ja, daß England nur etwas mehr als zwanzig Meilen entfernt war, aber ich konnte einfach nicht fassen, daß ich an einer fremden Küste stand und es wirklich sehen konnte. Ja, ich war sogar so überrascht, daß ich Bestätigung bei einem Mann suchte, der in nachdenklicher Stimmung vorbeilatschte.
    »Excusez-moi, monsieur«, erkundigte ich mich in meinem besten Schulfranzösich. »C’est Angleterre dort drüben?«
    Er riß sich aus seinen Gedanken und schaute in die Richtung, in die ich zeigte, nickte tiefbekümmert, als wolle er sagen: »Leider ja«, und ging weiter.
    »Na, so was«, murmelte ich und ging mir Calais anschauen.
    Es ist eine interessante Stadt, die nur zu dem Behufe existiert, daß Engländer in 100-%-Polyesteranzügen einen Tagesausflug irgendwohin machen können. Weil Calais im Krieg durch Bomben zerstört wurde, fiel es den Stadtplanern in die Hände und sieht infolgedessen aus wie eine Betonwüste. Eine alarmierende Zahl Bauten im Zentrum, besonders um die trübsinnige Place d’Armes herum, scheint Keksschachteln nachempfunden zu sein. Ein paar Gebäude sind sogar über Straßen errichtet worden – immer ein Zeichen dafür, wie hin und weg die Stadtplaner der Fünfziger von den Möglichkeiten waren, die der Beton bot.
    Aber das störte mich nicht. Die Sonne schien richtig schön wie im Altweibersommer, und ich war in Frankreich und in dieser glücklichen Stimmung, in die man immer zu Beginn einer langen Reise mit der schwindelerregenden Aussicht gerät, Woche um Woche eigentlich nichts Großartiges zu tun, und das Arbeit zu nennen. Meine Frau und ich hatten gerade erst die Entscheidung gefällt, für eine Weile zurück in die Vereinigten Staaten zu ziehen, damit die Kinder einmal das Leben in einem anderen Land kennenlernten und meine Frau an sieben Tagen der Woche bis zehn Uhr abends einkaufen konnte. Kurz zuvor hatte ich außerdem gelesen, daß laut einer Gallup-Umfrage 3,7 Millionen Amerikaner glauben, sie seien irgendwann einmal von Außerirdischen entführt worden, und mir war klar: Mein Volk brauchte mich! Aber ich wollte unbedingt einen letzten Blick auf Großbritannien werfen – eine Art
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