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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel
Autoren: Bill Bryson
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Abschiedsreise durch die grüne, freundliche Insel machen, die so lange meine Heimat gewesen war. Ich war nach Calais gefahren, um England wie damals beim erstenmal vom Meer her zu betreten. Am nächsten Tag wollte ich eine Frühfähre nehmen und ernsthaft mit der Aufgabe beginnen, Großbritannien zu erforschen, das öffentliche Antlitz und die sozusagen intimeren Bereiche der Nation zu betrachten. Doch heute noch war ich frei und ungebunden und konnte tun und lassen, was ich wollte.
    Zunächst war ich enttäuscht. Niemand auf den Straßen von Calais sah aus wie Yves Montand oder Jeanne Moreau, geschweige denn, wie der wunderbare Philippe Noiret. Nur Briten in Sportklamotten liefen herum. Aber statt Pfeifen am Hals und Fußbällen in der Hand schleppten sie schwere Einkaufstüten mit klirrenden Flaschen und stinkendem Käse und fragten sich, warum sie den Käse gekauft hatten und was sie mit sich anstellen sollten, bis sie die Vier-Uhr-Fähre nach Hause nehmen konnten. Im Vorbeigehen hörte man, wie sie ganz unglücklich und kleinlaut mit sich und der Welt haderten. »Sechzig Francs für ein Scheißpäckchen Ziegenkäse? Na, das wird sie dir nicht danken …« Ach, sie lechzten alle nur nach einer schönen Tasse Tee und was Richtigem zum Essen. Mit einem kleinen Hamburger-Stand hätte man hier ein Vermögen verdienen können. Und ihn »Burger von Calais« nennen müssen.
    Man muß allerdings einräumen, daß man in Calais außer einkaufen und leise mit sich und der Welt hadern nicht viel machen kann. Vor dem Hôtel de Ville steht die berühmte Statue von Rodin, und es gibt ein einziges Museum, das Musée des Beaux Arts et de la Dentelle (»das Museum der Schönen Künste und Zähne«, wenn mich mein Französisch nicht völlig im Stich läßt). Aber es war geschlossen und das Hôtel de Ville weit entfernt – und die Statue von Rodin ist ja sowieso auf jeder Ansichtskarte. Wie alle anderen auch landete ich in den Souvenirläden und stöberte herum. Die hat Calais in einer gewissen Bandbreite.
    Aus Gründen, die mir immer schleierhaft geblieben sind, haben die Franzosen ein besonderes Genie für kitschige religiöse Andenken. In einem düsteren Laden an einer Ecke der Place d’Armes fand ich eins, das mir gefiel: ein Plastikmodell der Jungfrau Maria. Sie stand mit ausgebreiteten Armen in einer Grotte, die aus Meeresmuscheln, Miniseesternen, feinziselierten Ästchen trockenen Seetangs und einer lackierten Hummerschere modelliert war. Am Hinterkopf der Madonna klebte ein Plastikgardinenring als Heiligenschein, und auf die Hummerschere hatte der talentierte Schöpfer des Kunstwerks mit akkurater Hand ein eigenartig heiter-festliches »Calais!« geschrieben. Ich zögerte, weil es so teuer war, aber als die Dame in dem Laden mir zeigte, daß man das Teil auch elektrisch illuminieren konnte und es funkelte wie ein Karussellpferd, stellte sich mir nur noch die Frage, ob eins ausreichte.
    »C’est très jolie«, flüsterte sie regelrecht erstaunt, als sie begriff, daß ich bereit war, echte Francs dafür hinzublättern, und eilte von dannen, um die Figur einzupacken und das Geld zu kassieren, bevor ich zur Vernunft kam und schrie: »Potzblitz, wo bin ich hier? Und ich bitt Sie, was ist diese kitschige merde, die ich da vor mir sehe?«
    »C’est très jolie«, wiederholte sie beschwichtigend, als befürchte sie, meinen Wachschlaf zu stören. Wahrscheinlich war es lange her, daß sie zum letztenmal eine Jungfrau Maria mit Muscheln als Wohnzimmerlampe verkauft hatte. Als sich die Ladentür hinter mir schloß, hörte ich jedenfalls deutlich einen Freudenjuchzer.
    Um meinerseits den Kauf zu feiern, ging ich auf einen Kaffee in ein gutbesuchtes Café in der Rue de Gaston Papin et Autres Dignitaires Obscures. Hier drinnen erschien mir Calais viel gallischer. Die Leute küßten sich zur Begrüßung auf beide Wangen und umkräuselten sich mit dem blauen Rauch aus Gauloises und Gitanes. Auf der anderen Seite des Raums saß eine elegante Dame in Schwarz, die aussah wie Jeanne Moreau, die sich rasch noch eine Zigarette und einen Pernod genehmigt, bevor sie eine Begräbnisszene spielt. Ich schrieb eine Ansichtskarte nach Hause, genoß meinen Kaffee und winkte in den Stunden bis zur Dämmerung freundlich, aber vergeblich einem geschäftigen Kellner in der Hoffnung zu, ihn an meinen Tisch zu locken, damit ich meine moderate Rechnung begleichen konnte.
    In einem kleinen Restaurant auf der anderen Straßenseite dinierte ich billig und
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