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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel
Autoren: G Pauly
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mir. Ganz tief drinnen. Wahrscheinlich, weil ich mich noch gut an die Zeit erinnern |31| kann, in der die Abkürzung für Freikörperkultur einen negativen Klang hatte. Heute sind die Übergänge vom Textil- zum FKK-Strand Gott sei Dank fließend, früher waren es Grenzen, die Gutes von Schlechtem trennten, eine neue Freizügigkeit von alter Spießigkeit.
    Dabei waren es gar nicht die Touristen, die das Nacktbaden nach Sylt getragen hatten. Die Sylter selbst waren die Ersten gewesen, die nackt ins Meer sprangen. Schon im 19. Jahrhundert wurde den Badenden aus gesundheitlichen Gründen empfohlen, auf Kleidung zu verzichten. Irgendein Westerländer Arzt soll behauptet haben, dass Kleidung die positive Wirkung des Wellenschlags auf den Körper unterbinde.
    Aber vor vierzig Jahren wurde mancher, der nach Sylt reiste, schief angesehen. »Willst du etwa nackt baden?«
    Sechzehn war ich, als ich das erste Mal mit der Clique nach Sylt fuhr. Auch meine Eltern sahen mich schief an. »Wollt ihr etwa nackt baden?«
    Ich war sehr überzeugend, als ich diesen Verdacht weit von mir wies. Nackt baden war ja auch wirklich das Letzte, was ich wollte. Elena war immer schon anders als ich, sie nahm jede Herausforderung an. War sie es, die damals die Idee hatte, zum Nacktstrand zu fahren?
    Grinse ich? Ja, wahrscheinlich sehe ich jetzt so aus, als machte mir der lange Weg durch die Dünen trotz der Hitze Spaß. Ja, er macht mir Spaß! Warum auch nicht? In meinem Kopf surrt eine Erinnerung, über die sich lachen lässt, unter meinen Füßen warmer Sand, über mir ein wolkenloser Himmel, auf meinem Gesicht die Sonne und leichtes |32| Gepäck auf meiner rechten Schulter. Ich kann langsam oder schnell laufen, niemand, der mich antreibt oder zurückhält. Und ich werde mir den Liegeplatz aussuchen, der mir gefällt.
    Ich hätte den kleinen Sonnenschirm mitnehmen sollen, vielleicht auch die helle Wolldecke, von der sich der Sand so leicht abschütteln lässt. Badeschuhe wären auch nicht schlecht gewesen. Seit ich mir vor Jahren die Fußsohlen an einer Muschel aufgeritzt habe, trage ich immer Badeschuhe, wenn ich ins Wasser gehe. Aber früher hat eben Georg alles zum Strand geschleppt, was ich dort zur Hand haben wollte. Klaglos, das muss man ihm lassen, hat er sich alles aufgebuckelt. Aber wozu brauche ich einen Sonnenschirm? Ich will braun werden, egal, was die Dermatologen dazu sagen. Die Decke ist auch nicht wichtig, und wenn ich gut aufpasse, wird es auch ohne Badeschuhe gehen. Ohne Georg sowieso!
    »So ist es recht«, würde Elena sagen, wenn sie wüsste, was ich denke.
    Der Lister FKK-Strand und die Strandsauna! Es dämmert mir allmählich, welche Erinnerung in mir berührt worden ist. Gehe ich jetzt etwa denselben Weg, den ich vor vierzig Jahren mit den anderen gegangen bin? Schwer zu sagen. Die Wege von den Parkplätzen zum Strand unterscheiden sich kaum, die Dünen verändern sich ohnehin im Lauf der Jahre. Ich bin nicht sicher. »Der FKK-Strand mit der Strandsauna …« Diese Wörter erzeugen einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Es schmeckt wie Erinnerung. Wie Schuld. Am liebsten würde ich ausspucken.
    |33| Was war das für eine prüde Zeit damals, in der der Besuch des Nacktstrandes ein Abenteuer war! Ja, das war er wirklich – ein Abenteuer! Wir hatten zwar die ganze Rhetorik parat, die aus Nacktheit etwas total Normales machte, und taten so, als verachteten wir alle, die gegen nackte Haut, freie Liebe und Gruppensex waren, aber keiner von uns erfüllte auch nur eine einzige der Forderungen, die er in die Welt posaunte, um Eltern und Lehrer zu provozieren. Ja, der Besuch des Nacktstrandes war ein Abenteuer, ich bleibe dabei. Für jeden von uns! Wenn auch keiner es zugab. Wir wollten nicht mehr prüde sein, hassten alles, was prüde war – und waren doch genauso prüde wie unsere Eltern.
    Schon lange habe ich nicht mehr an diesen schrecklichen Tag gedacht. Verdrängt habe ich ihn, so gut es ging. Diese Erinnerung ist nichts, worüber sich lachen lässt. Ich habe mir etwas vorgemacht. Wer erinnert sich schon gern an eine Zeit, die voller Scham und Schuldgefühle war?
    Vielleicht wäre ich doch besser zum Ellenbogen gefahren! Dann hätten sich meine Gedanken nur um Georg gedreht. Auch nicht besonders angenehm, aber immerhin ohne Scham und Schuld. Wenn ich an Georg denke, kann ich mich in seiner Schuld sonnen und über das lachen, wofür er sich schämen muss. Wesentlich angenehmer und viel besser als die Erinnerung an meinen
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