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Red Rabbit: Roman

Red Rabbit: Roman

Titel: Red Rabbit: Roman
Autoren: Tom Clancy
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Dinge mindestens einen Tag. Es lag in der Natur der Menschen – gerade auch der an mächtiger Stelle –, dass sie ihre Nase in alles Mögliche hineinsteckten und sich den Kopf zerbrachen, obwohl sie doch eigentlich wissen mussten, dass so etwas reine Zeit- und Energieverschwendung
war. Doch selbst der Marxismus-Leninismus hatte keinen Einfluss auf die Menschennatur. Traurig, aber wahr. Der neue Sowjetmensch war, wie der moderne Pole, letztlich immer noch Mensch.
    Tonlos flimmerten im Hintergrund Szenen aus einer Ballettaufführung über den Fernsehbildschirm. Die Darbietung war so stilisiert wie jedes andere Werk der Leningrader Truppe um Kirow. Der Empfänger glaubte beinahe, die Musik hören zu können. Eigentlich gefiel ihm Jazz viel besser als Klassisches, aber bei einem Ballett war Musik ja ohnehin nur Garnierung oder allenfalls Taktgeber, damit die Tänzer wussten, wann sie hüpfen mussten. Für den Geschmack eines Durchschnittsrussen waren die Ballerinen natürlich viel zu schlank. Allerdings würden diese tanzenden Hänflinge von Männern richtige Frauen nie derartig mühelos durch die Luft werfen können.
    Wieso driftete er mit seinen Gedanken ab? Langsam lehnte er sich in seinem Ledersessel zurück und faltete den Bogen auseinander. Der Brief war auf Polnisch verfasst, eine ihm fremde Sprache, enthielt aber im Anhang eine wortwörtliche russische Übersetzung. Natürlich würde er sie noch einmal prüfen lassen, nicht nur von seinem eigenen Übersetzer, sondern darüber hinaus von zwei, drei psychologischen Sachverständigen, die den geistigen Zustand des Absenders zu beurteilen hätten und eine mehrseitige Analyse erstellen würden – was letztlich auch nur Zeitverschwendung wäre. Dann hätte er einen Bericht zu verfassen und seine Vorgesetzten, nein: seine Standesgenossen mit allen verfügbaren Informationen zu versorgen, damit diese ihrerseits Zeit verschwendeten, indem sie den Brief studierten und überlegten, welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.
    Der Vorsitzende fragte sich, ob diesem polnischen Oberst eigentlich klar war, wie leicht es seine politischen Chefs im Grunde hatten. Die brauchten die ganze Sache nur weiterzuleiten, die Verantwortung an die vorgesetzte Stelle abzutreten, was in allen Politapparaten unabhängig ihrer Philosophie gewissermaßen Routine war. Vasallen waren Vasallen, und das überall auf der Welt.
    Der Vorsitzende blickte auf. »Genosse Oberst, danke, dass Sie mir das hier zur Kenntnis gebracht haben. Bestellen Sie Ihrem Kommandanten schöne Grüße von mir. Sie sind entlassen.«

    Der Pole stand stramm, salutierte auf polnische Art, was den Vorsitzenden reichlich komisch anmutete, und verließ, ohne eine Miene zu verziehen, den Raum.
    Juri Andropow wartete, bis die Tür geschlossen war, und wandte sich dann wieder dem Brief und der Übersetzung zu.
    »Aha, du willst uns also drohen, Karol. Ts, ts …« Er schüttelte den Kopf. »Mutig von dir, aber mir scheint, du tickst nicht sauber, Genosse Papa.«
    Wieder blickte er auf, nachdenklich diesmal. An den Wänden hingen die üblichen Kunstwerke, zu genau dem Zweck, der für alle Büroräume zutraf, nämlich um die Leere zu überdecken. Bei zweien handelte es sich um Ölgemälde von Renaissancekünstlern, ausgeliehen aus der Sammlung eines längst verstorbenen Zaren oder Adeligen. Des Weiteren hing da ein Porträt von Lenin, recht gut gemalt. Es zeigte ihn mit fahler Haut und gewölbter Stirn, so, wie man ihn von millionenfachen Abbildungen her kannte. Gleich daneben hing ein gerahmtes Farbfoto von Leonid Breschnew, dem gegenwärtigen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Das Foto war eine Lüge, zeigte es doch einen energischen jungen Mann anstelle jenes senilen alten Ziegenbocks, der jetzt am Kopfende des Politbüro-Tisches saß. Zugegeben, alt wurden alle, aber die meisten Würdenträger legten, wenn es an der Zeit war, ihr Amt nieder und verabschiedeten sich in den wohlverdienten Ruhestand. Nicht so in diesem Land, erinnerte sich Andropow und richtete seinen Blick zurück auf den Brief. Und schon gar nicht dieser Mann. Der hatte sein Amt auf Lebenszeit gepachtet.
    Drohte dieser Pontifex doch glatt damit, den einen Teil der Gleichung zu verändern, dachte der Vorsitzende des Komitees für Staatssicherheit. Und darin lag Gefahr.
    Gefahr?
    Gefährlich war, dass die Konsequenzen im Unklaren blieben. Die Genossen aus dem Politbüro – alt, vorsichtig und ängstlich, wie sie waren – würden
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