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Rebellin unter Feen

Titel: Rebellin unter Feen
Autoren: R. J. Anderson
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Himmel. »Es ist trotzdem ungerecht«, murrte sie.
    Auf ihre Worte folgte eine unbehagliche Pause. Dann seufzte Winka. »Ich wollte es dir bisher nicht erzählen«, sagte sie, »aber du bist jetzt alt genug, also …«
    »Das mit der großen Spaltung weiß ich schon«, fiel Bryony ihr ins Wort. Sie hatte den ganzen Nachmittag Bücherregale abgestaubt und die Geschichte dabei Pechnelke aus der Nase gezogen, der Bibliothekarin der Eiche. »Vor langer Zeit hat jemand die Bewohnerder Eiche verflucht, und seither können wir nicht mehr zaubern. Die Feen wussten nicht mehr ein noch aus und hatten Angst, und viele starben. Dann kam Königin Amaryllis, nur dass sie damals noch nicht Amaryllis hieß und noch keine Königin war …«
    »Sie hieß Erle«, sagte Winka leise.
    Bryony beachtete ihren Einwurf nicht. »Sie konnte noch zaubern, weil sie zum Zeitpunkt der Spaltung nicht in der Eiche war. Und weil niemand sonst klug und stark genug war, musste sie Königin werden. Sie erließ viele Vorschriften, um uns vor den Krähen und Füchsen und anderen Gefahren draußen zu schützen, aber viele Feen machten trotzdem dumme Fehler und wurden getötet, deshalb verbot sie uns schließlich gänzlich, nach draußen zu gehen.« Bryony hatte den letzten Satz in einem Atemzug gesagt. Jetzt sah sie Winka trotzig an. »Siehst du, ich weiß schon alles.«
    »Ja … doch«, stotterte Winka. »Tja, dann …«
    »Aber es ist trotzdem eine blöde Vorschrift«, fuhr Bryony hitzig fort. »Ich bin ja nicht dumm und lasse mich töten, also!« Mit einem Flattern ihrer Flügel hüpfte sie auf den Fenstersims.
    »Bryony!«, kreischte Winka. »Komm da runter!«
    Doch Bryony ließ sich nicht beirren. Auf dem Fenstersims hockend maß sie die Entfernung zum nächsten Ast. Winka wollte sie gerade packen, da sprang sie.
    Sie landete mit ausgebreiteten Flügeln sicher wie eine Libelle. Mit vor Stolz gerötetem Gesicht richtete sie sich auf. Eine sommerliche Brise belohnte sie und strich ihr die verschwitzten Haare aus der Stirn. Ein herrliches Gefühl.
    »Komm zurück, Bryony! Nein, halt, bleib, wo du bist, ich hole Hilfe … oder nein, ich darf dich nicht allein lassen … ach, was mache ich bloß?« Aufgeregt trippelte Winka am Fenster hin und her. Sie war zu ängstlich, um selbst hinauszusteigen, was bedeutete, dass Bryony ihre Freiheit noch ein wenig genießen konnte.
    Eifrig kletterte Bryony zur äußersten Spitze des Astes hinaus, schlang die Arme um einen biegsamen Zweig und hängte sich daran. Unter ihr lag der Garten, der sie schon immer gelockt hatte: die ungezähmte Wildnis der Rosenhecke im Osten, das dichte Ligustergebüsch im Westen, der mit Blumen getupfte Rasen und in einiger Entfernung das nicht ganz geheure, große Haus.
    Seit über vierhundert Jahren wohnten Feen in der Eiche, hatte Pecknelke gesagt. Das Haus war erst später dazugekommen und hatte sich hier breit gemacht. Niemand hatte es hergebeten, aber sein steinernes Gesicht, die leeren Fenster und das hochnäsige Giebeldach ließen keine Fragen und schon gar keine Widerrede zu. Gerüchten zufolge steckte es voller Monster, obwohl Bryony noch nie eins gesehen hatte. Vielleicht sah sie heute eins?
    »Bryony, bitte!«, flehte Winka, aber ihre Stimme kam jetzt von weiter weg und war leichter zu ignorieren. Bryony rutschte den Zweig hinunter, blieb mit gegrätschten Beinen auf dem Ast sitzen und stieß mit den nackten Fersen in die Luft. Wie hatte sie es nur so lange ausgehalten, wie eine Gefangene in der Eiche eingesperrt zu sein?
    Ein scharrendes Geräusch unter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Sie spähte über den Rand des Astes. Am Fuß der Eiche stand ein riesiges Geschöpf mit sonnengebräunten Gliedern und einem runden, haarlosen Gesicht. Vor ihren Augen sprang es in die Höhe, bekam den untersten Ast zu fassen und begann, den Baum hinaufzuklettern.
    Es muss schon die ganze Zeit da unten gestanden haben, dachte Bryony entzückt und erschrocken zugleich. Und jetzt kommt es herauf. Soll ich weglaufen? Oder wegfliegen? Oder bleibe ich hier, mache mich ganz klein und hoffe, dass es mich nicht sieht?
    Die Haare am Kopf des Monsters waren fast so hell wie ihreeigenen, nur gelber und kurz geschnitten, sodass man zwei seltsam gerundete Ohren sah. Die Augen, die man sah, wenn es auf der Suche nach dem nächsten Ast nach oben blickte, waren so blau wie die von Winka. Sogar die Gesichtszüge kamen Bryony irgendwie vertraut vor, obwohl das Gesicht so groß war …
    Das Monster war ein Kind,
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