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Raumzeit - Provokation der Schoepfung

Raumzeit - Provokation der Schoepfung

Titel: Raumzeit - Provokation der Schoepfung
Autoren: Johannes von Buttlar
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sogar die Stimme unseres Schamanen. Ich kam in Kontakt mit den Geistern des Himmels und der Erde. Ich glitt sanft hinunter auf eine fahle Hügelkuppe. Dort wartete eine vermummte Gestalt. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen.« Der Erzähler hat seine Augen geschlossen und hält inne.
    »Und was passierte dann in deinem Traum?«, drängt die Frau. »Die Gestalt sagte: ›Du bist nicht tot, du lebst. Auch deine Ahnen sind nicht tot. Sie leben. Euer Schamane weiß das.‹ Ich fragte: ›Wo sind meine Ahnen? Sind sie da oben?‹ Der Fremde antwortete: ›Es gibt kein Oben und es gibt kein Unten. Sie sind dort, wo du sie haben willst. Dreh dich um.‹ Und da stand er.« »Wer? Mach’s nicht so spannend. Erzähle schon weiter!«, sagt die Frau und schneidet mit ihrem Steinmesser Stücke von der Rentierkeule ab, wobei der heruntertropfende Saft ein zischendes Geräusch in den Flammen verursacht. Der Mann rückt näher zu den beiden und setzt sich zu ihnen. Beide starren ihn erwartungsvoll an.
    »Wer stand also da?«, drängt die Frau.
    Zögernd berichtet er weiter: »Ein großer Bär – mein Vater.«
    »Wer nun?! Ein Bär oder mein Großvater?«, fragt der Junge am Feuer.
    »Es war mein Vater in Gestalt eines Bären in meinem Traum«, antwortet der Mann ungeduldig. »›Was suchst du hier?‹, sagte er. ›Noch ist nicht die Zeit.‹« Der Mann macht eine Pause, nimmt sich ein Stück Fleisch und kaut bedächtig. Nachdem er den Bissen heruntergeschluckt hat, fährt er fort: »›Wo ist Mutter?‹, fragte ich. ›Wieso? Sie steht neben mir!‹ Und dann sah ich sie, in Gestalt eines Wolfes. Ich wendete mich an den Vater:›Was meinst du, wenn du sagst, es sei noch nicht die Zeit? Und überhaupt, was ist Zeit?‹
    Mutter streckte die Pfote aus und antwortete: ›Siehst du den Fluss dort unten? Und siehst du den Ast, den er mit sich trägt? Der Ast, das bist du. Der Fluss ist die Zeit und Zeit ist Bewegung. Sie trägt dich in die Zukunft.‹
    ›Und wenn der Fluss zu Eis erstarrt, was ist dann mit der Zeit?‹, fragte ich. ›Dann macht die Zeit Winterschlaf. Sie ruht und die Bewegung hört auf.‹«
    Der Mann greift wieder nach einem neuem Stück Fleisch und sagt kauend: »Ich wollte dann noch wissen, ob die Zeit auch zurückfließen kann. Mein Vater hat geantwortet: ›Nein. Sie führt nur von der Vergangenheit in die Zukunft.‹«
    »Und wo ist die Zukunft?«, unterbricht der Junge. Er blickt den Mann erwartungsvoll über das Feuer an. »Das habe ich auch gefragt.« Er wischt sich die Hand an seiner ledernen Hose ab. »›Die Mondfrau hat die Antwort. Dort ist die Zukunft.‹
    ›Und wie komme ich da rauf?‹
    ›Wieso, du kannst fliegen‹, sagte mein Traum-Vater.
    ›Ich kann nicht fliegen!‹
    ›Doch, doch, du bist doch hierher geflogene.‹«
    »Was dann?«, fragt die Frau.
    »Dann bin ich aufgewacht.«
    Der Mann steht auf, greift nach seinem Farbtöpfchen und dem Pinsel und sagt beiläufig zu dem Jungen: »Morgen gehen wir jagen.«
    »Und ich werde Pilze, Beeren und Wurzeln sammeln. Zukunft bedeutet für mich: arbeiten und für unsere Nahrung mitzusorgen«, murmelt die Frau vor sich hin. »Ich lege mich jetzt schlafen.«
Die Stadt Eridu an der Mündung des Euphrat am Persischen Golf – vor rund 5300 Jahren
    Die breite Straße der mächtigen Stadt wird von ein- und zweistöckigen Häusern aus gebrannten Lehmziegeln gesäumt. Auf den mit farbigen Stoffen überspannten Dachterrassen sitzen Menschen, in angeregte Gespräche vertieft. Sie unterhalten sich über den jüngsten Erlass des Priesterkönigs, der vom Hohen Rat des Oberhauses genehmigt wurde und nun vor dem Unterhaus verhandelt wird, oder sie schließen einfach nur Geschäfte ab. Männer in farbenfrohen Gewändern spazieren an den zahlreichen Schankstuben der lebensfrohen Stadt vorbei. Eine Gruppe unterhält sich lautstark und trinkt aus buntbemalten Keramikschalen Bier. 60 Sorten stehen zur Auswahl. Andere ziehen das kühle Nass in einem der zahlreichen öffentlichen Bäder vor, die durch die zentrale Wasserversorgung der Stadt stets frisches Wasser haben.
    Eine der Nebenstraßen führt geradewegs aus der Stadt zu wogenden Getreidefeldern und Dattelhainen, die sich im Wasser der Kanäle und der Lagune spiegeln. Boote fahren bis unter die mit prachtvollen Tempeln geschmückte Akropolis von Eridu. Elegante, geschminkte Frauen in kostbaren Gewändern, Goldschmuck im hochgesteckten Haar und Edelsteinketten an Armen und Hals, flanieren in den gepflegten
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