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Raststätte Mile 81

Raststätte Mile 81

Titel: Raststätte Mile 81
Autoren: Stephen King
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die ganze kommende Woche da sein, um das Schuljahr abzuschließen, und ich würde noch einmal vorbeischauen und den Schrank mit den Snacks ausräumen – das hatte ich mir selbst versprochen. Sonst würden die Ferienkurslehrer, die das Lehrerzimmer im Westflügel benutzten, ihn von Käfern wimmelnd vorfinden.
    Hätte ich gewusst, was die Zukunft für mich bereithielt, wäre ich bestimmt zu ihr hinaufgegangen. Ich hätte ihr vielleicht sogar den Kuss gegeben, der in den letzten paar Monaten zwischen uns in der Luft hing. Aber das wusste ich natürlich nicht. Das Leben schlägt gern Kapriolen.
    3
    Der silbrige Trailer von Al’s Diner stand abseits der Main Street und jenseits der Bahngleise im Schatten der alten Worumbo Mill. Solche Lokale wirkten oft schäbig, aber Al hatte die Hohlblocksteine, auf denen sein Etablissement ruhte, mit hübschen Blumenbeeten getarnt. Es gab sogar ein ordentliches Rasenquadrat, das er persönlich mit einem altmodischen Handrasenmäher trimmte. Der Rasenmäher war so gut gepflegt wie die Blumen; seine leuchtend farbig lackierten surrenden Messer hatten keinen einzigen Rostfleck. Er hätte erst vor einer Woche in der benachbarten Western-Auto-Filiale gekauft worden sein können … das heißt, wenn es in The Falls noch eine Western-Auto-Filiale gegeben hätte. Die einzige in der Gegend war um die Jahrhundertwende ein Opfer der riesigen Einkaufskästen geworden.
    Ich folgte dem gepflasterten Weg, stieg die wenigen Stufen hinauf und blieb stirnrunzelnd stehen. Das Schild WILLKOMMEN IN AL’S DINER, HEIMAT DES FATBURGERS! war verschwunden. An seiner Stelle hing ein Pappquadrat mit dem Text: WEGEN KRANKHEIT ENDGÜLTIG GESCHLOS SEN. DANKE FÜR EURE LANGJÄHRIGE KUNDSCHAFT & GOTT SEGNE EUCH.
    Ich steckte noch nicht in dem Nebel des Irrealen, der mich bald verschlingen würde, aber seine ersten Ausläufer griffen nach mir, und ich spürte sie. An der Heiserkeit, die ich in Als Stimme gehört hatte, oder dem bellenden Husten war keine Sommergrippe schuld. Auch keine Erkältung. Diesem Schild nach musste es etwas Ernsteres sein. Aber welche schwere Krankheit brach in nur vierundzwanzig Stunden aus? Genau genommen sogar weniger. Jetzt war es halb drei. Als ich das Lokal gestern Abend um Viertel vor sechs verlassen hatte, war Al noch gesund und munter gewesen. Sogar fast hyperaktiv. Ich erinnerte mich, ihn gefragt zu haben, ob er zu viel von seinem eigenen Kaffee getrunken habe, und er hatte geantwortet, nein, er denke nur daran, Urlaub zu machen. Redeten Leute, die gerade krank wurden – und zwar schwer genug, um ein Lokal zu schließen, das sie über zwanzig Jahre lang allein geführt hatten –, von Urlaubsplänen? Manche vielleicht, aber vermutlich nicht viele.
    Die Tür ging auf, bevor meine Hand die Klinke berührte, und Al stand vor mir. Er sah mich an, ohne zu lächeln. Ich erwiderte seinen Blick und spürte, wie der Nebel des Irrealen um mich herum dichter wurde. Der Tag war warm, aber der Nebel war kalt. An dieser Stelle hätte ich noch kehrtmachen und weggehen können, zurück in die Junisonne, und irgendwie wollte ich das auch. Hauptsächlich war ich jedoch durch Staunen und Bestürzung gelähmt. Auch durch Entsetzen, das kann ich gleich zugeben. Eine schwere Krankheit entsetzt uns nämlich immer, und Al war schwer krank. Das konnte ich auf den ersten Blick sehen. Und todkrank traf es vermutlich noch besser.
    Es waren nicht nur seine sonst so rosigen Wangen, die jetzt schlaff und fahl geworden waren. Nicht die wässrige Schicht auf seinen blauen Augen, die jetzt verwaschen aussahen und wie kurzsichtig blinzelten. Es waren nicht einmal seine zuvor fast schwarzen Haare, die jetzt fast weiß waren – schließlich konnte er sie sich aus Eitelkeit gefärbt und nun plötzlich beschlossen haben, die Farbe herauszuwaschen und die Haare wieder natürlich zu tragen.
    Das Unmögliche daran war, dass Al Templeton in den zweiundzwanzig Stunden, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, mindestens fünfzehn Kilo abgenommen zu haben schien. Vielleicht sogar zwanzig, was ein Fünftel seines früheren Körpergewichts gewesen wäre. Niemand verlor fünfzehn oder zwanzig Kilo in weniger als einem Tag, niemand. Aber ich sah Al direkt vor mir. Und das war der Augenblick, glaube ich, in dem der Nebel des Irrealen mich komplett verschluckte.
    Al lächelte, und ich stellte fest, dass er nicht nur Gewicht, sondern auch viele Zähne verloren hatte. Sein Zahnfleisch sah blass und ungesund aus. »Wie gefällt dir mein
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