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Rasputins Erbe

Rasputins Erbe

Titel: Rasputins Erbe
Autoren: Norah Wilde
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hatte noch ungefähr 30 Minuten, um pünktlich ins Büro zu kommen. Einerseits wollte sie Peer nicht enttäuschen, jetzt da sie (vorerst inoffiziell) zur Junior-Chefin befördert worden war, andererseits war sie sich sicher, dass die verwöhnten Russen ebenfalls nicht pünktlich erscheinen würden. Sie erinnerte sich an ihre wilde Phase, die noch gar nicht so lange zurück lag, und wunderte sich kurz darüber, dass sie solche Vorurteile gegenüber ihren Kunden hatte. Früher, also vor fünf oder sechs Jahren, war sie eher eine Art Hippie gewesen, dem das Motto „Leben und leben lassen“ am besten gefällt. Heute, einige Jahre später, hatte sie sich eine ansehnliche Karriere erarbeitet. Sie urteilte häufiger als früher. Und sie urteilte härter. Ihr war das bewusst und manchmal sehnte sie sich an die unbeschwerte Zeit zurück. Allerdings wusste sie auch, dass sie sich die sauteuren Manolo Blahnik Schuhe nicht hätte leisten können, wenn sie damals in der Berliner Künstlerszene versackt wäre.
    Sie föhnte und bürstete noch ein paar Minuten an ihren Haaren herum und zog doch noch ein anderes Oberteil an. Als sie den letzten Knopf ihrer weißen Bluse zuknöpfte und sich dabei im Spiegel beobachtete, musste sie abermals an den wirren Traum denken. Sie durchfuhr eine Woge der Lust, als sie kurz die Augen schloss, um die wenigen Fragmente, an die sie sich noch erinnern konnte, ein zweites und drittes Mal zu durchleben.
    Der Mann in ihrem Traum war groß gewesen, mindestens 1,90m. Er hatte nicht gelächelt, sondern bloß selbstsicher geguckt. Er hatte dunkles Haar gehabt, militärisch kurz, aber da war sie sich gar nicht so sicher.
    Sie öffnete die Augen wieder, als sie bemerkte, dass sie immer noch an ihrer Bluse herumnestelte. Sie drehte den Kopf und schaute sehnsüchtig in Richtung ihres Nachttisches, in dem eines ihrer Spielzeuge auf sie wartete. Eines von dutzenden Geheimnissen, die sie vor Thomas, dem wohl spießigsten und prüdesten Mann dieser Generation, hatte verstecken müssen.
    Sie riss sich jedoch zusammen und eilte schließlich in den Flur, um sich in ihre geliebten neuen Designerschuhe hinein zu quälen – ja, der kleine Zeh pochte immer noch vor sich hin. Außerdem war es draußen arschkalt, das hatte ein Blick auf das kleine Thermometer am Balkonfenster verraten. Es war ihr egal. Da musste sie heute durch. Sie hatte immerhin einen Ruf zu verlieren und sie wusste, dass vor allem die reichen Kunden der FemediaX GmbH Wert auf ein gepflegtes Äußeres legten.
    Sie steckte sich unscheinbare Ohrringe an und legte sich die Armbanduhr an, die Peer ihr überraschend zur Beförderung geschenkt hatte. Peer ist doch ein Schlitzohr, dachte sie. Die Zeiger ihrer neuen Uhr neigten sich bereits gefährlich in Richtung 07:00 Uhr – sie hatte tatsächlich zu viel getrödelt.
    Draußen eilte sie so schnell es ging zur U-Bahn. Normalerweise wäre sie zu Fuß gegangen, aber heute war nicht der richtige Tag, um noch mehr Zeit zu vergeuden.
    Während sie sich vor wenigen Minuten noch sicher war, dass der hohe Besuch sich verspäten würde, hoffte sie es jetzt vielmehr. Sie wollte Peer nicht enttäuschen und betete, dass die U-Bahn diesmal die drei Stationen zum Büro schaffen würde, ohne dass blecherne Lautsprecher plötzlich den Totalausfall der Weichen erklären. Genau das war nämlich bei ihrem letzten wichtigen Termin passiert. Sie müsse sich endlich angewöhnen, pünktlich zu kommen, hatte Peer sie damals verzweifelt ermahnt.
    Sie schaute in die verschlafenen Gesichter in der U-Bahn und hoffte, dass sie frischer aussah als diese Zombies.
    Die U-Bahn beförderte sie sicher zur richtigen Haltestelle. Als sie die Treppen vom Untergrund so gut es mit den filigranen Pumps nur ging hinaufeilte, fluchte sie plötzlich: „Wie kann man nur so blöd sein.“ Sie blieb schlagartig stehen. Ein Passant, der ebenfalls die Treppe hinaufeilte, drehte sich um und schnauzte zurück: „Blöde Kuh, meinst du die Treppe gehört dir allein?“
    Sie blinzelte verwirrt und als sie bemerkte, dass sie offenbar laut gedacht hatte, wollte sie sich bei dem zu Recht verärgerten Mann entschuldigen. Ihr fielen jedoch nicht die passenden Worte ein und außerdem war der Mann bereits seiner Wege gegangen. „Wie kann man nur so blöd sein!“, wiederholte sie halblaut.
    Sie hatte ihre Unterlagen vergessen. Schlimmer noch. Ihre Aktentasche inklusive Laptop lag im Wohnzimmer auf dem Tisch neben der Couch. Sie hatte am Vorabend bis spät in die
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