Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Raine der Wagemutige

Titel: Raine der Wagemutige
Autoren: Connie Brockway
Vom Netzwerk:
er die Schultern, und das Lächeln flackerte einmal mehr über seine melancholischen Züge. „Ich glaubte da noch an etwas“, sagte Raine Merrick.
    „Was sie tut, ist widernatürlich!“ zischte der englische Junge, der neben Raine angekettet war. „Ich habe gehört, was sie tut. Ich weiß, was sie ist. Durch und durch verderbt! Mich wird sie nicht bekommen!“
    Der Junge warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die eisernen Handfesseln, die ihn mit gespreizten Armen an die raue Steinwand neben dem ebenso gebundenen Raine ketteten. Er war siebzehn, so hatte er wenigstens gesagt. Im selben Alter, in dem Raine nach Frankreich gebracht worden war.
    „Mich wird sie nicht auf diese Art und Weise missbrauchen!“ Der Trotz des Jungen brach in einem erstickten Aufschluchzen.
    Raine ignorierte ihn und ließ die Zellentür nicht aus den Augen, beobachtete den Eingang scheinbar gelassen, seine Anspannung geschickt verbergend, während er sein frisch rasiertes Kinn an seiner Schulter rieb. Das angenehm saubere Gefühl der glatten Haut in seinem Gesicht war überwältigender als jede andere Empfindung, die er in den vergangenen fünf Jahren verspürt hatte. Natürlich hatte man ihm nicht gestattet, sich selbst zu rasieren. Niemals hätten sie ihm ein Rasiermesser in die Hand gegeben. Stattdessen hatten sie ihn für den Vorgang auf einen Stuhl gefesselt, und der jüngere Wärter hatte die Aufgabe - und das im Übrigen mit wenig Sorgfalt - übernommen.
    Pierre hatte es besonders genossen, mit der stumpfen Klinge über Raines Lenden herumzufuchteln, aber als sein Opfer sich weigerte, sich irgendeine Regung anmerken zu lassen, hatte der abscheuliche Wärter den Spaß daran verloren und sich damit begnügt, Raine in aller Ausführlichkeit zu beschreiben, was „Madames Jungen“ in und aus den Händen der verschleierten Dame zu erdulden hatten.
    Raine sparte sich die Mühe, Pierre mitzuteilen, dass er bereits alles über Madame und ihre „Spielchen“ wusste. Die schwarz verschleierte Dame war eine Legende unter den Gefangenen. Das war auch der Grund dafür gewesen, warum er ihr vor Monaten, als sie gekommen war, um die „Kandidaten“ zu begutachten und ihre Wahl zu treffen, vor die Füße gespuckt hatte. Er trug immer noch die Narben der Prügel, die ihm diese kleine Geste der Auflehnung eingetragen hatte.
    Doch zu jener Zeit war er sich noch sicher gewesen, dass die Jahre, die er bereits im Gefängnis verbracht hatte, irgendwie auf einem Irrtum beruhten, und dass die Freiheit, die er zwei kurze Wochen lang nach seiner Flucht genossen hatte, ihm für den Rest seines Lebens wiedergeschenkt werden würde. Fast ein Jahr hatte vergehen müssen, bevor er begriff, dass sein Vater für ihn kein Lösegeld schicken würde; und aus dem Gefängnis, in das man ihn verlegt hatte, war ein Entkommen wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen als aus dem, aus dem er gekommen war.
    Da hatte der Wunsch nach Rache von ihm Besitz ergriffen. In diesem Höllenloch hatte er nur wegen des überwältigenden Verlangens, sich an seinem Vater zu rächen, ihn bezahlen zu lassen, überlebt. Aber dieses Gefängnis lehrte einen bald schon, alles außer den notwendigsten, niedrigsten Bedürfnissen abzulegen. Schließlich war sogar sein Stolz verkümmert und gestorben, während er seine ganze schwindende Kraft auf die herkulisch erscheinende Aufgabe verwendete, am Leben zu bleiben.
    Selbst das Gerücht, dass sein Vater Ash freigekauft habe, konnte keinen Ärger über diese Ungerechtigkeit in ihm wecken. Zu jenem Zeitpunkt hatte er schon viele und bedeutend schlimmere Ungerechtigkeiten gesehen. Nein, Raine wollte nicht länger Rache; er wollte nur noch überleben. Und das bedeutete, zu fliehen oder bei dem Versuch zu sterben.
    Hier würde er ohnehin bald sterben. Wenige nur lebten so lange wie er unter diesen Bedingungen, die meisten wurden von Krankheiten und Seuchen dahingerafft, einem anderen Insassen umgebracht, starben einfach an allgemeinen Mangelerscheinungen oder der Verkümmerung von Geist und Seele, die sich schließlich körperlich im Tod äußerte.
    Er hatte nur eine Chance zur Flucht, und die hing davon ab, dass Madame Noir ihn heute aus dem Kreis der Kandidaten wählte, die Armand aus seinen Verliesen hervorgezerrt hatte. Er blickte zu den anderen Männern. Zwei waren schon länger hier: ein amerikanischer Kolonist mittleren Alters mit scharf geschnittenen Zügen und ein magerer Preuße, der langsam an Schwindsucht dahinsiechte. Der englische
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher