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Radio Heimat

Radio Heimat

Titel: Radio Heimat
Autoren: Frank Goosen
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wusste man gleich, da kommt wieder einer um die Ecke, der hat dreißig Jahre lang kaum das Sonnenlicht gesehen und hustet jetzt seine schleimigen Lungenreste auf den Bürgersteig hinaus. Und manchmal sah das, was da rauskam, aus, als würde es noch leben. Hackendes Lungendonnern - der Soundtrack einer Kindheit im Ruhrgebiet.
    Sehr viele alte Männer fand man im Stadtbad. Ich weiß gar nicht, wieso ich da so oft hinging, vor allem im Sommer, mit dem Ferienpass. Vielleicht haben mich meine Eltern gezwungen, weil sie dachten, Chlor macht schlau. Jedenfalls war es schon ein beeindruckender Anblick, wenn man sah, wie die Kriegsgeneration ihre Prothesen auf der Wärmebank lagerte. Einmal rief so ein rüstiger Mittsiebziger mich, den Achtjährigen, zu sich, nahm seinen Unterschenkel ab und sagte: »Kumma, der Rest is inne Ukraine geblieben!«
    In einschlägigen Kontaktanzeigen nennt man so etwas wohl »zeigefreudig«.
    Alte Leute machten sich ständig Sorgen und warnten uns Kinder vor der bösen Welt dort draußen, eine Welt, die bevölkert war von Säufern, Huren, Dieben, Mördern und Kinderschändern. Die praktisch alle nebenan wohnten.
    »Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht mit dem Nieswitz reden.«
    »Onkel Nieswitz?«
    »Das ist kein Onkel. Das ist ein böser Onkel.« »Also doch ein Onkel?« »Aber ein böser.«
    »Der hat immer Klümpchen für mich.«
    »Die hast du doch wohl nicht angenommen!«
    »Waren lecker, die Klümpchen.«
    »Mach das nie wieder!«
    »Wieso denn nicht?«
    »Das sind alles böse Onkel, die nehmen dich mit hinters Gebüsch!«
    »Und dann?«
    »Wirst du schon sehen.«
    »Ich denke, ich soll nicht mitgehen?«
    »Herrgott, du kannst einem aber auch auf die Nerven gehen!«
    Außerdem beantworteten alte Leute nicht gerne Fragen, konnten aber auch nicht zugeben, dass sie etwas nicht wuss-ten. Das lief dann ungefähr so:
    »Onkel Josef?«
    »Ja?«
    »Wieso sind die Bananen krumm?« »Wieso willst du das wissen?« »Nur so.«
    »So was fragt man nicht.« »Warum nicht?« »Das ist eben so.«
    »Was ist wie?«
    »Bananen sind eben krumm.«
    »Aber dafür muss es doch einen Grund geben! Du hast mal gesagt, es gibt für alles einen Grund.«
    »Sei froh, dass es bei uns überhaupt Bananen gibt!« »Wieso?«
    »Andere Leute haben keine Bananen, da können die Kinder auch nicht fragen, warum die krumm sind.« »Wer hat keine Bananen?« »Viele Leute.« »Wer denn?«
    »Die Leute in Afrika. Und in der Ostzone.« »Aber ich denke, die kommen aus Afrika, die Bananen.« »Nein, die kommen aus Bananien, und jetzt lass mich in Ruhe!«
    »Onkel Josef, was ist Ostzone?«
    »Ostzone ist ein Teil von Deutschland, aber nicht so richtig.« »Wieso?«
    »Da sitzt der Russe.« »Nur einer?«
    »Ja, und der hat auch keine Bananen und jetzt ist endgültig Schluss!«
    Und wenn man dann immer noch nicht aufhörte zu fragen, fingen sie einfach an zu husten und man hatte keine Lust mehr.
     

Vonne Alleestraße weg
    Ich komme in Bochum »vonne Alleestraße weg«. Mit der Betonung auf »weg«. Die Alleestraße ist eine Gegend, da sind nicht viele Bibliotheken. Auch der Bücherbus ist früher mit verhängten Scheiben einfach durchgerast.
    Die Alleestraße ist eine vierspurige Hauptverkehrsstraße, die schnurgerade stadtauswärts führt. Da stand links ein Schild mit »50« drauf und rechts auch, sodass viele Autofahrer dachten: In der Mitte gilt dann wohl Tempo 100.
    Aufgewachsen bin ich in der Nummer sechsunddreißig, wo heute das Wahlkreisbüro der Linkspartei ist. Früher hingen an den Bäumen entlang der Straße schon mal Plakate der KPD /ML oder der ML PD. Ein paar Meter weiter begannen die Hallen der Waffenschmiede des dritten Reiches, also von Krupp. Heute werden da die Radreifen für den ICE hergestellt.
    Neben dem Haus ist heute ein riesiger Supermarkt. Früher war da ein großer Parkplatz, und wenn man den überquerte und dann noch durch eine Tür in einem Drahtzaun ging, kam man in einen Teil der Stadt, für den es bis heute zwei schöne Bezeichnungen gibt. In anderen Städten nennt man es »Rotlichtbezirk« oder »sündige Meile«, bei uns heißt das »Gurke« oder »Eierberg«.
    Da war immer was los. Einmal ist schräg unter meinem Fenster, mitten auf den Straßenbahnschienen, jemand erstochen worden, wovon ich aber nichts mitbekam, immerhin geschah das nachts und ich war als Kind berühmt für meinen tiefen Schlaf.
    Ein anderes Mal stand ich morgens, kurz bevor ich zur Schule musste, in unserem kleinen
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