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Radio Heimat

Radio Heimat

Titel: Radio Heimat
Autoren: Frank Goosen
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sich so erzählt. Wenn mein Oppa zum Beispiel ausdrücken wollte, dass einer zwar die Schnauze aufreißt, aber nicht wirklich was zu erzählen hat, sagte er: »Kein Arsch inne Buchse, aber La Paloma pfeifen!« Und wenn er das steigern wollte, meinte er: »Keine Haare am Sack, aber im Puff drängeln!« Und ich habe später herausgefunden: Das stimmt! Müssen Sie mal drauf achten, wenn Sie den nächsten Termin haben!
    Mein Oppa hatte auch keinen übertriebenen Respekt vor großen Namen - ganz im Gegensatz zu meiner Omma. Tauchte zum Beispiel einer der Lieblingsstars meiner Omma im Fernsehen auf, rutschte sie ganz nervös auf dem Sofa hin und her und rief: »Ach guck mal! Der Vicco Torriani!« Was mein Oppa gern mit einem knackigen »Der geht auch nur kacken!« konterte.
    Ganz anderes Thema im Ruhrgebiet: die Luft. Früher hatten wir gar keine, heute sind wir laut Ruhrgebietstourismus GmbH der reinste Luftkurort. Eine Art Davos mit Industriekultur. Wenn da nicht ein fieses kleines Wörtchen wäre: Feinstaub. Doch mit Begriffen, in denen die Silbe »fein« drin vorkommt, kann der Alteingesessene nichts anfangen. Nehmen wir nur Theo, den alten Schrebergartennachbarn meiner Eltern: »Theo, was sagst du zum Thema Feinstaub?«
    »Ach geh mir doch weg mit Feinstaub! Wir, nä, wir hatten früher Staubkörner, die waren groß wie RATTEN! Und wir sind auch groß geworden!«
    Die Klischees über das Ruhrgebiet halten sich ziemlich hartnäckig, und jahrelang habe ich sehr viel Energie auf den Versuch verschwendet, sie zu widerlegen. Heute sage ich mir: Scheiß drauf! Wenn ihr den ganzen Mist glauben wollt, bitteschön. Überhaupt geht es darum, als Einheimischer ein entspanntes Verhältnis zu diesen Klischees zu entwickeln. Ich persönlich reise mittlerweile durchs Land und sage jedem, der es nicht hören will: »Ja, das stimmt alles. Wir leben wirklich unter Tage. Die Häuser oben sind nur Attrappen. Wir kommen praktisch nur für so quasi-religiöse Zusammenkünfte wie meine Lesungen an die Oberfläche. Unsere Kinder kommen wirklich mit der Grubenlampe an der Stirn zur Welt. Und wir haben natürlich alle noch einen alten Förderkorb in der Küche, da wird morgens die Familie hineingetrieben, dann geht es in einem Affentempo auf tausend Meter Tiefe, und dann wird zum Frühstück an der leckeren Kohle geschleckt!«
    »Stopp!«, rufen dann die Bedenkenträger. »Ist es nicht total peinlich, sich immer noch auf dieses überkommene Malo-chertum zu berufen?«
    Gegenfrage: Ist es nicht viel peinlicher, sich selbst immer noch zu Blasmusik auf den Arsch und auf die Schuhe zu hauen, obwohl man auch seit hundert Jahren keine Kuh mehr auf die Alm getrieben hat?
    Das Ruhrgebiet hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, das Recht erarbeitet, sich hemmungslos zu stilisieren und sich zu dem zu bekennen, was es einzigartig macht, nämlich ebenjene Arbeit. Zumindest die von früher.
    Und trotzdem stehen wir an lauen Sommerabenden auf unseren Eisenbahnbrücken, schauen auf unsere Städte, freuen uns darüber, wie schön das Leben mit Abitur sein kann, und denken: »Nä, schön is dat nich. Abba meins!«
    Oder wie es mein Oppa auszudrücken pflegte: »Ach, woanders is auch scheiße!«
     

Wir sind Strukturwandel
    Mein Oppa und mein Onkel väterlicherseits sind noch »eingefahren«, und zwar auf Zeche Constantin in Bochum Riemke/Hofstede, und deshalb bin ich als Kind reichlich versorgt worden mit den ganzen Heldengeschichten über die Bergleute. Wie die arbeiten konnten! Wie die nach der Arbeit saufen und singen konnten! Und wie die essen konnten!
    Meine Omma väterlicherseits hat mir erzählt, wie das war, wenn sie Reibeplätzchen gemacht hat. Mein Vater, der Jüngste, der eben nicht auf dem Pütt war, schaffte von diesen armdicken, in einem halben Liter siedendem Fett in einer schweren gusseisernen Pfanne vor sich hinschwimmenden Dingern gerade mal zwölf, dreizehn Stück. Aber Oppa und Onkel, die hart arbeitenden Bergleute, hauten regelmäßig dreißig bis vierzig weg! Jeder!
    Gewohnt haben die damals in einer langen Reihe von Häusern in der Bochumer Poststraße, im sogenannten »D-Zug«, und hier waren bis weit in meinen Erinnerungsbereich hinein die Toiletten auf halber Treppe, hatten schwarze Brillen und Deckel, und daneben hing eine Kette, an der nicht immer auch ein Griff zum Ziehen befestigt war. Im Winter war dieser Ort natürlich komplett unbeheizt, das heißt, alles, was man da tat, war ein Wettlauf mit dem Frost, schließlich war damals
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