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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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er kannte das Lied schon, hatte es vor Monaten transkribiert und übersetzt, ein Dschihad-Lied, er hatte sogar mitgesungen. Hatte er das? Ja. »Fi sabil Allah, fisabil Allah« – auf dem Pfade Gottes. Sie hatten etwas zu feiern gehabt, genau, der Sohn von Abbas war gerade geboren worden.
    Dann Khaldun, ein paar Wochen später.
    Khaldun wohnte nicht in der Marienstraße bei Mohammed und den anderen, aber er war ständig da, so häufig, dass er mit einkaufte, mit kochte, mit putzte.
    Samson sah sich selbst durch den engen Flur in die Küche treten und er sah Khaldun vor dem Herd hocken, er putzte ihn von innen. Er schrubbte ihn mit schnellen, hektischen Bewegungen.
    » Akhi , Bruder, ich glaube es reicht«, sagte Mohammed. »Ich glaube, er ist jetzt sauber!«
    Khaldun drehte sich kurz um. »Nein, er ist noch nicht ganz sauber, Bruder. So etwas macht man entweder richtig, oder man lässt es gleich bleiben!«
    Sie waren schließlich in Mohammeds Zimmer gegangen. Es war unmöglich gewesen, am Küchentisch sitzen zu bleiben und sich zuunterhalten, während Khaldun verbissen seine Mission erfüllte, den Herd zu reinigen.
    Bis alles blitzte.
    Ein anderes Mal hatte er Khaldun dabei beobachtet, wie er ein Geometriedreieck entzweibrach.
    »Der rechte Winkel war stumpf geworden«, hatte er Samson gesagt, der ihn fragend angeschaut hatte. »Es ist nutzlos.«
    Ganz oder gar nicht.
    Entweder-oder.
    Aber er konnte auch warmherzig sein. Wenn sein kleiner Bruder zu Besuch kam, der in Bremen eine Ausbildung machte, war er regelrecht aufgekratzt. Kaufte beim arabischen Bäcker Süßigkeiten für Khaled. Boxte Khaled spielerisch in den Bauch, um ihn anschließend zu umarmen. Organisierte einen Grill und marinierte selbst die Hühnerbeine, für den Abend im Park. Versuchte ihn dazu zu überreden, den letzten Zug zurückzunehmen und nicht den vorletzten.
    Ganz oder gar nicht.
    Entweder-oder.
    Natürlich konnte es sein. Alles konnte sein.
    Aber dann sah er in seinen merkwürdig luziden Erinnerungen auch sich selbst wieder: mehr als zehn Jahre jünger, wie er zwischen den Männern hin- und herlief, eifrig, offen, freundlich, naiv . Er hatte mitgesungen. Menschen können sich ändern, dachte Samson. Es sind mehr als zehn Jahre. Das ist eine lange Zeit.
    Mehr als zehn Jahre. Das ist eine lange Zeit.
    Der letzte Gedanke holte ihn schlagartig wieder in die Gegenwart zurück. Panik erfasste ihn, umklammerte seine Glieder wie eine Schlingpflanze, aus deren Griff er sich nicht mehr befreien konnte, egal wie sehr er strampelte und kämpfte und sich dagegen wehrte, die Luft wurde ihm knapp, und er hörte sich selbst keuchen.
    ***
    Sumaya sah auf die Uhr und stellte fest, dass es fast zehn nach neun war. Gut. Sie war mit Absicht etwas zu spät aus dem Haus gegangen, weil sie nicht als Erste ankommen und mit Merle Schwalballeine sein wollte. Nicht weil sie ihr nicht traute. Sie mochte sie auf eine gewisse Weise sogar. Aber sie wollte weder Smalltalk mit ihr betreiben, noch über Samuel reden, und das waren die beiden wahrscheinlichsten Optionen, wenn sie alleine zusammensäßen. Sie war aber selbst voller Gedanken über Samuel. Und sie wollte sie nicht teilen.
    Um genau zehn nach neun drückte Sumaya den Klingelknopf, und Merle Schwalbs verzerrte Stimme antwortete ihr augenblicklich durch einen kleinen Lautsprecher: »Hallo! Gehen Sie einfach in den Innenhof und dann über den Rasen und durch die Glastür!«
    Es war sehr warm und noch ziemlich hell, und als Sumaya über den Rasen und dann über die Steinterrasse und am Gartentisch und den Gartenstühlen vorbeilief, die offenbar zu Merle Schwalbs Wohnung gehörten, dachte sie, dass es eigentlich ein schöner Abend wäre, um draußen zu sitzen. Aber Merle Schwalb, die sie an der Terrassentür bereits erwartete und sie hineinwinkte, hatte sich offenbar für ein Treffen im Innern der Wohnung entschieden.
    »Hallo«, sagte Merle Schwalb. »Kommen Sie rein.«
    Sumaya fand sich in einem riesigen Wohnzimmer wieder, dessen Glasfassade auf den Rasen und die Terrasse ging, und das zur anderen Seite hin an eine offene Edelstahlküche grenzte. Am hinteren Ende des Raumes standen sehr breite und sehr niedrige dunkelgraue Sofas. In der Mitte befand sich ein langer, schmaler Tisch, dessen Platte aus Stein war und ein wenig wie Schiefer aussah.
    Zwei Männer saßen bereits an dem Tisch, ein jüngerer, den Sumaya dank eines Fotos auf der Globus – Webseite als Frederick Rieffen identifizieren konnte, und ein etwas
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