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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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Privatchemikern abgearbeitet hätte.«
    »Und die Liste?«
    »Die habe ich nicht.«
    »Henk, die brauchen wir!«
    »Klar. Ich versuch’s.«
    Henk war ihr Vorgesetzter, und es war merkwürdig, ihm Aufträge zu erteilen.
    Scheiß drauf.
    Dann, zwei Stunden später, ein Anruf von Frederick Rieffen: Ob sie sich zufällig in fünfzehn Minuten bei Butter Lindner über den Weg laufen könnten?
    Klar.
    Rieffen bestellte eine Leberkäse-Semmel mit Weißkraut und süßem Senf. Während die Angestellte hinter dem Tresen sich an die Erfüllung des Auftrags machte, wandte er sich leise an Merle Schwalb, die wie zufällig hinter ihm in der Schlange der Hungrigen stand, die auf die Schnelle etwas zum Mittagessen einkauften.
    »Wegen Dengelow: Er ist V-Mann-Führer. Ich hab in Arnos Schreibtisch geschnüffelt. Der Hinweis kam von Dengelows verficktem V-Mann! Tarnname Munir.«
    Merle fiel das Zwei-Euro-Stück aus der Hand, das sie schon herausgekramt hatte, um sich eine Zitronen-Buttermilch zu kaufen. Sie hob es auf, und während sie sich wieder aufrichtete, fragte sie Rieffen schnell: »Und was wissen wir über diesen V-Mann?«
    »Ich? Nichts!«
    »Versuch es weiter, o.   k.?«
    »Klar.«
    Dann wieder Henk. Und war das ein Funkeln in seinen Augen?
    »Ich hab die Scheiß-Liste, Merle, ich habe sie!«
    »Wow!«
    »Ja. Unfassbar.«
    »Wie?«
    »Das glaubst du nicht.«
    »Erzähl schon!«
    »Judo.«
    »Wie bitte?«
    Henk Lauter lächelte. »Ich habe sozusagen die Kraft meines Gegners für mich arbeiten lassen, darum geht’s doch beim Judo, oder?«
    »Henk, du sprichst in Rätseln!«
    »Ich hab einfach den Vorgesetzten des BKA – Kriminaltechnikers angerufen, mit dem ich heute Morgen gesprochen hatte. Und dann habe ich mich einfach als Arno ausgegeben. Und weißt du was? Er hat fast die Hacken zusammengeschlagen. Und er hat mir den Vermerk gefaxt!«
    »Wahnsinn.«
    »Ja. Aber wir haben jetzt die Liste.«
    »Das ist super. Kannst du sie bearbeiten? Auswerten?«
    »Ja, mache ich als Nächstes. Ich melde mich dann.«
    Das war der Moment gewesen, in dem Merle Schwalb beschlossen hatte, Sumaya al-Shami anzurufen, um ein Treffen noch am Donnerstagabend zu vereinbaren. Sumaya al-Shami sagte sofort zu. Sie verabredeten sich für 21 Uhr. Merle Schwalb wusste, dass sie noch lange nicht am Ziel waren. Es würde jetzt auf die Details ankommen. Darauf, ob alles ineinandergreifen würde. Ob sich ein Bild zusammensetzen ließ.
    ***
    Das Wenige, das passierte, geschah unglaublich schnell. Wie im Zeitraffer. Das Frühstück, eine Sache von fünf Minuten: ein paar Schritte, ein paar Handgriffe, das Klappern des stumpfen Messers, ein paar Bissen, ein paar Schlucke, dann wieder ein paar Schritte, und es war vorbei. Das Mittagessen genauso. Das Abendessen genauso. Und mehr passierte nicht.
    Und alles andere, der ganze Rest des Tages, die Hälfte jeder Nacht, verstrich unfassbar langsam. Wie. In. Zeitlupe.
    Ich liege jetzt auf dem Bett.
    Vielleicht setze ich mich vor dem Mittagessen noch einmal auf den Stuhl.
    Selbst seine Gedanken rasten nicht. Sie schwappten gegen seinen Kopf wie träge Wellen. Sie schwammen an ihm vorbei wie Meeresschildkröten auf einer langen, langsamen Reise, sahen ihn kurz verdutzt an und zogen dann weiter. Sie umgaben ihn wie Salzwasser, sie waren da, er konnte sie schmecken, aber er konnte sie nicht fassen und nicht festhalten.
    Sie kamen und gingen, ohne dass er sie steuern konnte.
    Das Foto: er und Mohammed. Arm in Arm. Er sah es genau vor sich, erinnerte sich an den groben rot-blauen Strickpullover, den Mohammed getragen hatte, an das T-Shirt, das er selbst an jenem Tag angehabt hatte. Und dann wurde das Foto lebendig, es begann sich zu bewegen, Mohammed bewegte sich, er kam auf ihn zu: Samuel, komm, und jetzt eins mit uns beiden! Mohammed war gut gelaunt. Er war gerade von irgendeiner Reise zurückgekommen, er hatte nicht genau gesagt, wo er gewesen war, aber er hatte gute Laune mitgebracht, er winkte Khaldun zu, und Khaldun – klick  – machte das gewünschte Bild, sogar die Kamera in Khalduns Hand konnte Samson sehen, klein und schwarz, mit einer Linse, die man durch Schieben öffnete, eine Olympus.
    Die anderen waren auch alle dabei gewesen, Ziad und Ali, alle eben, Samson brauchte in seiner Erinnerung nur seinen Kopf zu drehen, um sie zu sehen, in ihren karierten Hemden, die Plastikbecher mit Mangosaft in den Händen, die Bärte, er hörte das Lachen, irgendwann stimmte Ramzi ein Lied an, und die anderen fielen ein;
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