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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss
Autoren: Bettina Broemme
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umkrallte das Gestänge und löste sich aus ihrer Verkrampfung erst, als sie merkte, dass sie einigermaßen stabil saß. Die Füße hatte sie auf die oberste Leitersprosse gestemmt, ihr Hintern lehnte an einer Querverstrebung, an der sie sich auch mit den Händen festhielt.
    Ihr Blick wanderte zum Schulgebäude, das in einiger Entfernung mit seinen imposanten hellgelben Mauern emporragte. Die Menschen auf der Straße wirkten wie die sprichwörtlichen Ameisen. Flora sehnte sich danach, sie nur noch aus dieser Perspektive zu sehen. Edinger zum Beispiel, der dort unten herumstand und aufgeregt mit den Armen fuchtelte. Es sah aus, als ob er ein Handy an sein Ohr halte. Wie lächerlich wirkte so ein Leben von hier oben.
    Und wie einfach wäre es, die Hände vom Gestänge zu lösen. Ein klein wenig mit dem Körper nach vorne zu schaukeln, nur ein minimales Verschieben des Gewichts und sie könnte sich fallen lassen. Den Aufprall würde Yannik abfangen. In seinen Armen würde sie zu sich kommen. Mit ihm vereint, bis in alle Ewigkeit. Wie verlockend. Und wie simpel. Der Sog des Abgrunds wurde immer größer. Sie starrte hinunter, hielt den Atem an, konnte an nichts anderes denken. Vergaß die letzten Stunden, Tage, Wochen, vergaß ihr Leben, alles Schöne darin, alles Helle und Strahlende. Wenn sie sich jetzt abstoßen würde – vielleicht würde sie gleich nach oben segeln, keinen Umweg über den Erdboden nehmen, hinein in den Himmel, die unendlichen Weiten, für immer und immer.
    »Flora!«, hörte sie plötzlich eine Stimme. Das war nicht Yannik. Nicht Edinger.
    »Venha comigo até!«, sagte die Stimme und sie dachte, einen Engel zu hören. Aber warum wollte der Engel, dass sie mit ihm nach unten kam? Und sprachen Engel in Deutschland wirklich portugiesisch?
    Beinahe verärgert löste sie ihren Blick vom Boden. Knapp vor ihren Füßen sah sie das dunkle, freundliche, runde Gesicht des Bauarbeiters. Ohne große Mühen kletterte er noch ein Stück weiter nach oben und setzte sich neben sie, als wäre es ein Platz im Café.
    »Toller Ausblick von hier oben, nicht?!«, sagte er. Sein Portugiesisch war nicht so weich und singend wie das ihrer brasilianischen Freunde.
    »Woher kennst du meinen Namen?«, fragte sie und fühlte sich ihm gleich nahe, nur, weil sie dieselbe Sprache benutzten. Hier, in der Fremde. Er starrte nach unten und Flora hätte gerne gewusst, ob auch er den Sog der Erde fühlte. Schließlich sah er auf und blickte sie ernst an. »Ich glaube«, sagte er, »ich muss dir eine Geschichte erzählen. Ich hätte es schon neulich tun müssen. Vielleicht wäre dann manches anders gelaufen.«
    Flora sah ihn erstaunt an. Seine dunklen Augen bohrten sich in ihre. Er lächelte und sie sah seine makellos weißen Zähne.
    »Ich glaube, du weißt nicht einmal, wie ich heiße«, begann er. »Mein Name ist Arlindo. Wahrscheinlich hat sie mich nie erwähnt.«
    »Wer?«, fragte Flora, dabei wusste sie doch, von wem die Rede war.
    »Carina«, sagte Arlindo, so wie sie es erwartet hatte. «Die süße, kleine Carina. Ich bin vor drei Jahren aus Angola geflüchtet. Ich habe dort Maschinenbau studiert, in Luanda. Weißt du etwas über Angola?« Ein wenig beschämt schüttelte Flora den Kopf.
    »Bis 2002 war bei uns Bürgerkrieg, 27 Jahre lang. Meine Mutter kam ums Leben, mein jüngster Bruder auch. Mein Vater ist schon sehr alt, meine drei Schwestern versorgen ihn. Ich bin der Älteste und als Einziger konnte ich zur Schule und auf die Uni gehen. Allerdings – in Angola liegen die Universitäten ziemlich am Boden. Und statt mich mit den armseligen Studieninhalten zu beschäftigen, habe ich angefangen, mich für Menschenrechte in meinem Land einzusetzen. Keine gute Idee! Ich wurde mehrmals verhaftet, na ja, und irgendwann hab ich mich entschlossen zu fliehen. Ich kann dir jetzt nicht alles erzählen. Jedenfalls bin ich in Deutschland gelandet und ich kann immer noch nicht sagen, ob es das Schicksal mit mir gut oder schlecht gemeint hat. Mein Asylantrag ist noch nicht entschieden, sie lassen mich schmoren in der Ungewissheit. Die Spuren der Folter sind mir wohl nicht deutlich genug ins Gesicht geschrieben.« Er lachte bitter. Dann streckte er den Arm aus und wies eine Querstraße weiter.
    »Wir haben nicht mehr viel Zeit – dort kommen schon Feuerwehr und Polizei. Also, jedenfalls, über viele Umwege, Mittelsmänner und so weiter hab ich schließlich Unterschlupf gefunden bei Franz Meyer, dem Bauunternehmer. Ich habe es in der
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