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Rabinovici, Doron

Rabinovici, Doron

Titel: Rabinovici, Doron
Autoren: Anderrnorts
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war die Stimmung
wieder umgeschlagen. Er erinnerte sich an eine Radiosendung, die er vor
wenigen Wochen gehört hatte. Ein bekannter Historiker hatte über die
Vernichtung gesprochen. Die Zuhörer konnten anrufen und sich zuschalten
lassen. Eine Dame sagte: »Herr Professor, was Sie da erzählen, was die Nazis
taten, ist natürlich schrecklich. Aber was die Juden den Israeliten antun, ist
doch auch nicht in Ordnung.« Darauf korrigierte der Wissenschaftler: »Sie
meinen wohl, was die Israelis den Palästinensern antun?« Da meinte die Frau:
»Na, wie die da unten alle heißen, kann ich mir wirklich nicht merken.«
    Zu Hause angekommen, setzte er
sich an den Schreibtisch, um Klausinger zu antworten. Er wartete auf jene
Spannung, die ihn sonst überfiel, aber obwohl er voller Wut, sogar Haß war,
verfestigten sich seine Gedanken nicht, fing er immer wieder von vorn an.
    »Überfahr ihn«, hatte seine
Mutter in den ersten Jahren in Wien immer gesagt, wenn der Vater für einen
älteren Herrn an der Kreuzung bremste. »Dros oto«, das war ihre Parole
gewesen, und er, der Junge, hatte voll Begeisterung mitgeschrien. »Dros oto«,
gemeinsam mit seiner Ima: Ȇberfahr ihn. Er ist alt genug. Schau ihn dir an. So
haben sie doch ausgesehen. Überfahr ihn«, und sein Vater, dem Lager entronnen,
der die ganze Familie verloren hatte, lachte nur, lachte den Fußgänger an,
wies ihm mit offener Hand den Weg und sagte: »Das nächste Mal, Liebste, das
nächste Mal.«
    Nach fünfzehn Minuten löschte
er alles, was er bisher formuliert hatte. Was er in Wien sagte, mußte in Tel
Aviv falsch klingen und umgekehrt. Nichts schien mehr stimmig, Klausinger
würde auf jeden Fall recht behalten. Er klappte den Rechner zu.
    Als Esther anrief, um ihn an
ihr Open House zu erinnern, beschloß er, die Arbeit seinzulassen. Er duschte,
zog sich an und ging zum Auto. Der Motor verstotterte sich dreimal, ehe er doch
noch ansprang. In diesem Moment klingelte das Mobiltelefon. Seine Mutter hatte
ihn endlich erreicht.
    »Was soll ich dir sagen, Ethan?
Meine Niere, ich meine, seine Niere, jedenfalls die, die er von mir hat,
arbeitet nicht mehr. Abba hängt wieder an der Dialyse. Ich habe Angst.« Sie
sprach nicht weiter.
    »Warum habt ihr mich nicht
eher benachrichtigt?«
    »Das Beste wäre eine neue
Niere«, antwortete sie.
    Esther wohnte jenseits des
Stromes und unweit der alten Donau. Eine Siedlung aus Einfamilienhäusern am
Rand der Stadt. Ihre Tochter Sandra öffnete ihm die Tür. »Hei, Ethan.« Er
umarmte die Siebzehnjährige, streifte die Jacke ab, als Esther mit einem
vollbeladenen Tablett aus der Küche kam. »Ethan, wie schön, daß du da bist«,
rief sie, als hätte sie nicht erst vor dreißig Minuten mit ihm telefoniert. Sie
reichte Sandra die Obstschüsseln weiter: »Da, bitte bring das hinein«, und
drückte ihm einen Kuß auf die Wange, der nicht weniger fruchtig wirkte als die
Pfirsiche und Pflaumen auf dem Tablett. Ein wenig von dieser knackig reifen
Frische hatte auch ihr Gesicht, und er erinnerte sich an eine jiddische
Liedzeile, beckelach
wie kleinepomeranzen, fisselech was beten sich zum tanzen, so strahlte sie ihn an.
    Es war wie immer. Das Haus
voller Leute, die Rotwein aus Plastikbechern tranken und Salate und Aufstriche
von Papptellern aßen. Er kannte die meisten, die sich angeregt unterhielten,
die einander die neuen Varianten alter Witze erzählten und von den jüngsten
Verhältnissen in vertrauten Beziehungen flüsterten. Im Eßzimmer stieß er auf
einige Israelis, die mit bitterem Spott über die eigene Regierung herzogen. In
der Küche gemeinschaftliches Kochen, orientalische Salate, Babaganusch und
Tehina. In einer Ecke hackte Arnos Stein eine Tomate: »Hallo, Ethan.« Sein
Erscheinen erregte Aufsehen. Neben dem Treppenaufgang zwei Männer und eine
Frau, die sich auf hebräisch über eine Inszenierung an der Wiener Oper unterhielten.
Ethan wurde von Michael mit einem Lächeln begrüßt, einem Psychologen aus Haifa,
der in Wien ein Geschäft für Jazzmusik betrieb und nebenbei sein Geld mit dem
Verkauf von Versicherungspolicen verdiente. Et sprach mit einer Modedesignerin,
ihr Kleid und ihre Worte ein einziges Fließen, ihre Stimme seidiger als die
Gewänder, die sie nähte. Im Salon lümmelten zwei Frauen auf dem Sofa und
tuschelten. Die eine blickte sich um, und die andere sagte: »Keine Sorge. Er
ist in der Küche.«
    Vor dem kahlen Steinkamin
kauerte Mickey Scheffler. Seine Eltern waren Juden kommunistischen
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