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Rabinovici, Doron

Rabinovici, Doron

Titel: Rabinovici, Doron
Autoren: Anderrnorts
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Glaubens
gewesen. In Kommunen und Kadergruppen hatte er gegen sie rebelliert, doch seit
auch die Neue Linke recht alt aussah, sehnte er sich nach jener Abstammung, von
der schon seine Urgroßeltern nichts hatten wissen wollen. Ethan zog sich in den
Vorraum zurück. Die Historikerin Sonja Winkler grüßte ihn: »Hellou, wie geht
es dir? Dich kann man ja seit neuestem zweifach lesen. Pro und contra.«
    »Dieser Klausnitzer ist ein
Nazi«, so Peppi Golden, ein pensionierter Kunstschmied, der die Verfolgung als
Kleinkind im Keller überlebt hatte. Die nichtjüdische Mutter hatte ihm zweimal
das Leben geschenkt, ihm und seinem Zwilling, mit dem er Monate in einem
Bettchen hinter einem Verschlag versteckt war und den er seit einigen Jahren
nicht mehr sehen wollte. Er haßte seinen Bruder, diesen, wie er den
Alkoholiker nannte, hochprozentig Überflüssigen, mit dem er der Vernichtung
entronnen war und neben dem er im Sechstagekrieg gekämpft hatte. Er stritt mit
ihm vor Gericht um das Erbe der Großeltern, um die Häuser, die, einst der
Familie geraubt, den Geschwistern vor wenigen Jahren restituiert worden waren.
Er konnte nicht recht sagen, warum, aber wenn sie länger als fünf Minuten in
einem Raum zubrachten, endete es immer in Geschrei und manchmal mit Ohrfeigen.
»Er heißt Klausinger.«
    »Er hat kein Recht, so über
Dov zu schreiben. Gut, daß du ihm geantwortet hast. Nur war es blöd, ihm
Antisemitismus vorzuwerfen.«
    »Das habe ich nicht.«
    »Ich weiß. Reg dich ab. Ich
stimme dir ja ohnehin zu.« Lydia Frank fragte Peppi, welchem von Ethans Texten
er zustimme.
    »Beiden«, mischte Michael sich
ein: »Ich sehe da überhaupt keinen Widerspruch. Was, wenn die Artikel die
beiden Seiten einer Medaille sind? Was, wenn ich mich nur in diesem Zwiespalt
zu Hause fühle? Was, wenn wir alle hier heute abend nur deshalb
zusammengekommen sind, weil wir in dieser Kluft leben?«
    »Unsinn«, sagte Lydia. Sie
wohne in keiner Kluft, sondern in einer Währinger Wohnung. Sie könnten, fuhr
sie fort, Klausinger nicht verbieten, Dov ebenso kritisch zu betrachten, wie
sie selbst es taten.
    »Er ist ein Nazi«, schrie
Peppi Golden.
    »So ein Scheiß. Er hat Dov
nicht vertrieben.«
    »Er hätte es getan!«
    Ethan wollte zuschauen,
zuhören, wollte schweigen. Hier redeten sie von ihm, redeten von den Dingen,
die ihn bereits seit Tagen quälten, und nun, da die anderen über ihn stritten,
als wäre er gar nicht da, regte er sich nicht mehr auf über die Situation, in
die er geraten war.
    Wieso, fragte Lydia, gelte ein
Israeli als Linker, wenn er eine bestimmte Meinung vertrete, und ein
Österreicher als Nazi, wenn er dieselbe äußere.
    Sonja klaubte ein paar
Sonnenblumenkerne aus einer Schüssel, knackte mit ihren Zähnen die Schalen, während
sie auf Ethan zuschlich. Er möge ihr erklären, wieso er jemanden, der seinen
eigenen Artikel zitiere, so heftig angreife. Habe er denn seinen Text nicht
wiedererkannt? Wolle er ihr das weismachen?
    Ethan lächelte und zuckte die
Achseln. Michael meinte, auf hebräisch und in Israel klinge jedes Wort eben
anders als auf deutsch und in Österreich. Ethan habe seine eigenen Zeilen
nicht wiedererkannt, weil sie nicht mehr die seinen gewesen seien. Im anderen
Kontext sei ihre Bedeutung ins Gegenteil verkehrt worden. Er begreife übrigens
gar nicht, woher das Mißtrauen gegen den gemeinsamen Freund stamme. Wer glaube
denn, Ethan habe absichtlich gelogen?
    »Er ist ein Lügner.« Aus dem
Dunkeln kam eine weibliche Stimme. Jetzt erst bemerkte Ethan die Frau, die in
einem Ohrensessel saß, der Runde halb abgewandt. Nur ihre Unterschenkel waren
zu sehen, schlank und braungebrannt. Sie baumelten über die Armlehne. Das
Timbre ihrer Stimme erinnerte ihn an jemanden, doch wußte er nicht, an wen, bis
sich die Fremde aus dem Fauteuil schälte und er Noa Levy erkannte, der er im
Flugzeug begegnet war. Er verspürte eine merkwürdige Freude, sie wiederzusehen.
    »Er lebt vom Wechsel der
Identitäten. Jedem anderen wäre zuzutrauen, daß er die eigenen Texte nicht wiedererkennt.
Aber Ethan? Ethan doch nicht. Kulturbrüche. Das ist doch sein Metier. Das ist
seine Domäne. Es ist geradezu seine Spezialität, von einem Zusammenhang in den
anderen zu springen. Redet er nicht ununterbrochen davon? Über - wie nennt er
es? - Perzeptionen. Die wechselseitige Übersetzung von Ideen und Thesen, das
ist sein Thema. Von ihm heißt es doch, daß er immer präsent hat, was hier und
da und dort gedacht und formuliert
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