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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene
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Unfall?«
    »Nein.«
    Sie blickte wieder in den Abgrund. »War es deine Schuld?«
    Noch einen winzigen Schritt näher. »Sie … ich hätte es besser machen können. Ich hätte sie retten müssen.«
    »Aber war es deine Schuld?«
    Diese Erinnerungen lebten an einem finsteren Ort. Porrys mörderischer Freund. Porrys Freund, heulend. Ich schwöre bei Gott, ich werde sie nicht anrühren. Es ist nur der Scheißalkohol, Mann, ich will das gar nicht. Porrys Freund, am letzten Tag ihres Lebens, nach besoffenem Schweiß stinkend und Wiedergutmachung versprechend.
    Und ich habe dem Drecksack geglaubt. War es also meine Schuld?
    Wie sollte er dieses Monument des Schmerzes je abtragen, das er im Lauf der Jahre aufgetürmt hatte? Aus zahllosen selbst geschlagenen Wunden, mit denen er um seine Schwester trauerte?
    Tess verlangte die Wahrheit.
    »Nein«, sagte er. »Nein. Es war nicht meine Schuld.«
    »Aber die Geschichte hat kein Happy End.«
    Ein Schritt. Noch einer. »Nicht alle Geschichten haben eins.«
    Ihre Augen schimmerten. »Ich wünschte, sie wäre nicht gestorben, Chris.«
    »Das wünschte ich auch.«
    »Hat meine Geschichte ein Happy End?«
    »Ich weiß es nicht. Niemand weiß das. Ich kann versuchen, dazu beizutragen.«
    Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Aber du kannst es nicht versprechen.«
    »Ich kann versprechen, es zu versuchen.«
    »Ist das die Wahrheit?«
    »Das ist die Wahrheit«, sagte Chris. »Und jetzt gib mir deine Hand.«
    Er zog sie in seine Arme und rannte mit ihr von der Galerie herunter, rannte zur Treppe, rannte gegen den Schlag seines Herzens an, bis er die Schärfe des Winters schmecken und jedenfalls ein bisschen Sonne sehen konnte.

 
VIERTER TEIL
     
Verstehbarkeit
     
    Verwundere dich nicht, werter Freund, wenn ich zu dir von Überirdischem und der Luft Zugehörigem zu sprechen scheine. Ich stelle, kurz gesagt, nur die Umrisse einer Reise dar, die ich kürzlich unternahm.
    LUKIAN VON SAMOSATA,
Ikaromenippos, ca. 150 n. Chr.

 
Achtunddreißig
     
     
    Sie überquerten die Grenze nach Ohio am Ende eines trägen Augustnachmittags.
    Auf der letzten Etappe der Reise saß Chris am Steuer, während Marguerite Musik hörte und Tess auf dem Rücksitz döste. Eigentlich waren sie auf dem Weg nach New York, wo Chris eine Reihe von Terminen mit seinem Verleger hatte, aber Marguerite hatte sich dafür stark gemacht, vorher noch ein Wochenende zu Besuch bei ihrem Vater zu verbringen; ein paar Tage sanfte Dekompression, bevor sie in die Welt zurückgeworfen wurden.
    Es war beruhigend zu sehen, fand Chris, wie wenig dieser Teil des Landes sich seit den Ereignissen des letzten Jahres verändert hatte. Ein Kontrollpunkt der Nationalgarde stand verlassen an der Grenze von Indiana, ein stummer Zeuge sowohl der Krise als auch ihrer Überwindung; ansonsten sahen sie überwiegend Kühe und Mähdrescher, Raststätten und die Schilder der diversen County-Grenzen. Viele dieser Straßen waren nie automatisiert worden, und es war ein Vergnügen, stundenlang nur mit den eigenen Händen am Steuer zu fahren – ohne Näherungsalarm, Autopilot-Eingriffe oder Anweisungen zur Stauvermeidung, nur Mensch und Maschine, so wie von Gott geplant.
    Er stieß Marguerite an, als sie ihr Ziel erreichten.
    Sie nahm die Kopfhörer ab und blickte sich um. Sie sei schon zu lange nicht mehr hier gewesen, erzählte sie Chris; sie sei bekümmert über die schäbigen Einkaufszentren, all die zweifelhaften Bars und Vergnügungsstätten, die entlang des alten Highways aus dem Boden geschossen waren.
    Aber das Stadtzentrum war noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte: die ein Jahrhundert alte Polizeiwache, die von Kastanien gesäumte öffentliche Grünfläche, die etwas moderneren Windmühlen auf dem Kamm einer entfernten Hügelkette. Die diversen Kirchen, einschließlich der presbyterianischen, der ihr Vater einst vorgestanden hatte.
    Inzwischen war ihr Vater im Ruhestand. Er war aus dem Pfarrhaus in ein Holzhaus in der Butternut Street gezogen, südlich des Geschäftsviertels. Chris folgte ihren Hinweisen und parkte schließlich am Kantstein vor dem Haus.
    »Wach auf, Tess«, sagte Marguerite. »Wir sind da.«
    Tess stieg aus und lächelte, noch etwas angeschlagen, ihrem Großvater entgegen, der mit strahlendem Gesicht die Verandatreppe herunterkam.
     
    Marguerite hatte sich Sorgen gemacht, dass die Begegnung zwischen Chris und ihrem Vater schwierig verlaufen könnte. Diese Befürchtung erwies sich als unbegründet. Mit milder
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