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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene
Autoren: authors_sort
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kalzifizierten Schädel aufzunehmen …
    Tess wollte wissen, ob das das Ende der Geschichte sei.
    Nicht annähernd, versicherte Mirror Girl, noch lange nicht. Denkende Wesen bauen Maschinen, sagte Mirror Girl, und ihre Maschinen werden immer komplexer, und schließlich bauen sie Maschinen, die selber denken und noch mehr als das tun: Maschinen nämlich, die ihre Komplexität in die Struktur potenzieller Quantenzustände einbringen. Kulturen aus denkenden Organismen erzeugen diese Schnittstellen extrem verdichteter Komplexität auf gleiche Weise, wie riesige Sterne zu einer Singularität, einem winzigen Punkt von unendlicher Dichte, kollabieren.
    Tess fragte, ob es das sei, was jetzt geschehe, hier in den düsteren Fluren von Eyeball Alley.
    Ja.
    »Was passiert als Nächstes?«
    Das übersteigt den Verstand.
    »Wie geht die Geschichte zu Ende?«
    Das kann niemand sagen.
    »Ist das die Stimme meines Vaters?« Es war eine Stimme, die von der Aussichtsplattform der O/BEK-Galerie zu kommen schien, wo Tess gern hingehen wollte, obwohl sie gleichzeitig große Angst davor hatte.
    Ja.
    »Was macht er da?«
    Denkt ans Sterben, sagte Mirror Girl.
     
    Die O/BEK-Aussichtsplattform war kreisförmig, im Stil eines OP-Hörsaals, und Chris betrat sie auf der Seite, die Rays Standort gegenüberlag. Er konnte Ray und Tess nur als verschwommene Umrisse erkennen, verzerrt durch die Glasscheiben, die die meterbreite O/BEK-Kammer umgaben.
    Die Scheiben hätten klar und durchsichtig sein sollen. Stattdessen waren sie offenbar von Frost bedeckt, der sich in Säulen und Ranken an ihnen emporzog. Etwas katastrophal Unvorhergesehenes ereignete sich unten in den Kernzylindern.
    Er duckte sich und bewegte sich langsam um die Galerie herum. Er konnte Rays Stimme hören, weich und unflektiert, in das von den runden Wänden zurückgeworfene Echo gebettet.
    »Ich hasse sie nicht. Warum sollte ich? Sie hat mich etwas gelehrt. Etwas, das die meisten Leute nie lernen. Wir leben in einem Traum, einem Traum, der von Oberflächen handelt. Wir lieben unsere Haut so sehr, dass wir nicht darunter blicken können. Aber das ist nur eine Geschichte.«
    Tessas Stimme war unnatürlich ruhig: »Was könnte es auch sonst sein?«
    Jetzt konnte Chris sie beide um die Rundung der Glaswand herum direkt sehen. Er verharrte in Kauerstellung, beobachtete sie.
    Ray saß auf der Erde, die Beine gespreizt, den Blick starr geradeaus gerichtet. Tess saß auf seinem Schoß. Sie erblickte Chris und lächelte; ihre Augen leuchteten hell.
    Ray hatte ein Messer in der rechten Hand. Das Messer war auf Tessas Kehle gerichtet.
     
    Aber natürlich war es gar nicht Tess.
    Ray fühlte sich, als wäre er von einer Klippe gefallen und hätte bei jedem Aufprall auf dem Weg nach unten eine irreparable Verletzung erlitten, aber dies war jetzt der letzte Schlag, die harte Landung, die Erkenntnis, das dieses Ding, das er für seine Tochter gehalten hatte, nicht Tess war, sondern das Symptom ihrer Krankheit. Ihrer aller Krankheit vielleicht.
    Dies war Mirror Girl.
    »Du bist gekommen, um mich zu töten«, sagte Mirror Girl.
    Er hielt die Messerspitze an ihre Kehle. Sie hatte Tessas Stimme und Tessas Körper, aber ihre Augen verrieten sie. Ihre Augen und ihr umfassendes Wissen über ihn.
    »Du glaubst, die einzige Wahrheit liege im Schmerz«, flüsterte sie. »Aber du täuschst dich.«
    Das war zu viel. Er drückte das Messer in ihre Halsmulde hinein – so unmöglich diese Tat auch war, ein Mord, der nicht gelingen konnte, die Hinrichtung einer elementaren Kraft in Gestalt seines einzigen Kindes – und zog es quer über ihre blasse Haut. In der Erwartung eines Blutschwalls. Aber da war kein Blut. Das Messer traf auf keinerlei Widerstand.
    Sie verschwand von seinem Schoß wie eine geplatzte Seifenblase.
    Tief in der Erde war ein neuerliches Beben zu spüren, und die undurchsichtigen Glaswände der O/BEK-Galerie begannen zu Staub zu zerfallen.
     
    Aber es ist in Wirklichkeit gar nicht Tess, dachte Chris, und da hörte er panische Schritte hinter sich und den Schrei einer dünnen Stimme – nein, das war Tess, und sie lief auf ihren Vater zu.
    Chris bekam sie gerade noch an der Schulter zu fassen und riss sie in seine Arme.
    Sie zappelte und trat um sich. »Lass mich los!« Die Glaswände zerbröselten, die Galerie öffnete sich auf die O/BEK-Anlage, Ranken einer Substanz, die wie Perlmutt aussah, wanden sich in spitzenartiger, symmetrischer Anordnung über den Boden. Es stank nach Ozon. Chris
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