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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene
Autoren: authors_sort
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Ähnlichkeit mit Tessas Augen. Ihr Gesichtsausdruck war feierlich. »Unwissenheit«, sagte sie. »Neugier. Schmerz. Liebe.«
    Marguerite nickte. »Danke.«
    »Und jetzt«, sagte Mirror Girl, »solltest du wohl gehen und deiner Tochter helfen.«

 
Vierunddreißig
     
     
    Die Fahrstuhltür öffnete sich auf die dunkle, aber von flackerndem Licht durchzuckte O/BEK-Galerie, und Ray stellte verblüfft fest, dass Tess ihn erwartete.
    Sie sah ihn mit großen staunenden Augen an. Er ließ das Messer sinken, widerstand aber der Versuchung, es hinter seinem Rücken zu verstecken. Es war schwer, den Zweck oder die Bedeutung ihrer Anwesenheit zu verstehen.
    »Du schwitzt«, stellte sie fest.
    Es war warm. Das Licht war trüb. Die O/BEK-Geräte waren immer noch einen Flur entfernt, aber Ray hatte das Gefühl, er könne ihre Nähe spüren, ein Druck auf den Trommelfellen, ein Anflug von Kopfschmerzen. Was wollte er hier? Das Ding töten, das seine Autorität untergraben, seine Ehe zum Scheitern gebracht und den Verstand seiner Tochter verwirrt hatte. Er hatte angenommen, dass es immer noch verwundbar sei – er verfügte nur über ein Messer und seine bloßen Hände, aber er konnte einen Stecker ziehen, ein Kabel durchschneiden oder eine Versorgungsleitung kappen. Die O/BEKs existierten mit menschlichem Einverständnis, und er würde ihnen dieses Einverständnis entziehen.
    Was aber, wenn die O/BEKs eine Möglichkeit entdeckt hatten, sich zu verteidigen?
    »Warum willst du das tun?«, fragte Tess, als hätte er laut gesprochen. Hatte er womöglich. Er sah seine Tochter missbilligend an.
    »Du dürftest gar nicht hier sein«, sagte er.
    Sie griff nach seiner Hand. Ihre kleinen Finger waren wärmer als die Luft. »Komm und sieh«, sagte Tess. »Na los!«
    Er folgte ihr durch eine Reihe von unbemannten Sicherheitssperren zur Galerie, zu der von Glaswänden eingefassten Plattform, von wo aus man auf die sich darunter erhebenden O/BEK-Geräte blickte und wo Ray erkannte, dass sein Plan, die Apparatur abzustellen, undurchführbar geworden war und er über eine andere Verfahrensweise würde nachdenken müssen.
     
    Im Innern der O/BEK-Zylinder bevölkerten quasibiologische Netzwerke einen fast unendlichen Phasenraum, mit der Außenwelt verbunden anfangs über die Telemetrie aus TPF-Interferometern, die Fourier-Transformationen auf gestörte, in Rauschen übergehende Signale anwendeten, später dann (unerklärterweise), indem sie die erwünschten Informationen mit von den Theoretikern sogenannten »anderen Mitteln« erlangten. Sie hatten mit dem Universum gesprochen, dachte Ray, und das Universum hatte geantwortet. Die O/BEK-Apparatur wusste Dinge, über die die menschliche Gattung nur spekulieren konnte. Und jetzt hatte sie diese Interaktion mit der physischen Welt auf eine neue Ebene gehoben.
    Die O/BEK-Kammer, drei Stockwerke tief in der Erde, war vorher ein partikelfreier Reinraum im NASA-Stil gewesen. Normalerweise konnte dort nichts leben (von den O/BEKs abgesehen). Ray allerdings hatte in dem trüben Licht den Eindruck, dass die Kammer wimmelte von irgendetwas – wenn nicht etwas Lebendigem, so doch etwas, das sich eigenständig vermehrte, ein transparenter Wildwuchs, der die O/BEK-Räumlichkeit schon teilweise ausfüllte und an den Wänden emporstieg wie Frost an einem winterlichen Fenster. Der Boden der Kammer, zehn Meter weiter unten, war von einer gallertartigen kristallinen Flüssigkeit bedeckt, die glitzerte und sich bewegte wie an den Strand gespülte Gischt.
    »Das ist so, damit die O/BEKs sich auch ohne Strom von außen erhalten können«, sagte Tess. »Die Wurzeln gehen bis tief unter die Erde. Um Hitze zu zapfen.«
    Wie tief mussten sie wohl unter die Erde gehen, um in einer verschneiten Prärie »Hitze zu zapfen«? Dreihundert Meter, fünfhundert, fünftausend? Bis ganz runter zum geschmolzenen Magma? Kein Wunder, dass die Erde gezittert hatte.
    Und woher wusste Tess das?
    Tess hatte offensichtlich ein gewisses Einfühlungsvermögen für die O/BEKs entwickelt. Eine ansteckende Geisteskrankheit, dachte Ray. Tess war schon immer labil gewesen. Vielleicht machten die O/BEKs sich diese Schwäche zunutze.
    Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Die Zylinder befanden sich außerhalb seiner Reichweite und seine Tochter war hoffnungslos kompromittiert. Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Faustschlags. Er sank rückwärts gegen die Wand und glitt an ihr hinunter, saß auf dem Boden, das Messer in der schlaffen
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