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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene
Autoren: authors_sort
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Entsetzt und wütend über das, was aus seiner Tochter geworden war, nahm Ray das Messer fest in die Hand.

 
Fünfunddreißig
     
     
    Sie ist hier, dachte Chris und stürmte die Fluchttreppe hinunter in Richtung O/BEK-Galerie, angetrieben von einem Gefühl der Dringlichkeit, das er sich selbst nicht so recht erklären konnte. Wie Gewehrfeuer knallten seine Schritte durch die hohle Betonsäule des Treppenhauses.
    Sie war hier. Diese Erkenntnis war so unabweisbar wie Kopfweh. Tessas in Luft sich auflösende Schneespur war zwar ein allenfalls zweideutiger Hinweis gewesen. Dennoch war er sich vollkommen sicher, dass sie in der O/BEK-Galerie war, ebenso wie er damals genau gewusst hatte, wo Porry am Abend der Kaulquappen hingegangen war. Es war mehr als Intuition; es war, als wäre die Information direkt in seinen Blutkreislauf geleitet worden.
    Vielleicht war es ja so. Wenn Tess spurlos von einem verschneiten Parkplatz verschwinden konnte, was mochte dann noch alles möglich sein? Was hier passierte, musste große Ähnlichkeit mit dem haben, was in Crossbank geschehen war, musste etwas sehr Schwerwiegendes, offenbar Katastrophales, möglicherweise Ansteckendes und jedenfalls überaus Sonderbares sein.
    Tess steckte mitten drin, und das galt, mehr oder weniger, jetzt auch für ihn. Er gelangte an eine Tür mit der Aufschrift GALERIEEBENE – ZUTRITT VERBOTEN. Sie öffnete sich selbsttätig auf seine bloße Berührung hin, dank Charlie Grogans Transponder.
    Rings um ihn ächzte und stöhnte die Alley noch unter der Erschütterung des Morgens, suchte, unbekannten Belastungen ausgesetzt, ihren Platz. Chris wusste, dass das Gebäude potenziell unsicher war, doch die Sorge um Tess überwog seine nicht unbeträchtliche Furcht. Nicht, dass er hier etwas zu suchen gehabt hätte. Porrys Tod hatte ihn gelehrt, dass gute Absichten genauso tödlich sein können wie Bösartigkeit, dass Liebe ein plumpes und wenig verlässliches Werkzeug ist. Jedenfalls glaubte er, diese Lektion gelernt zu haben.
    Dennoch war er hier, klaftertief in der Scheiße, und versuchte verzweifelt, die Tochter einer Frau zu retten, die ihm sehr viel bedeutete. (Und die ebenfalls verschwunden war; aber seine Angst um Tess schien sich nicht auf Marguerite zu erstrecken. Er glaubte fest, dass Marguerite in Sicherheit war. Und auch dies war ein Wissen aus nicht bestimmbarer Quelle.)
    Noch einmal ächzte das Gebäude. Die Notfallsirenen gerieten erst ins Stottern, dann erstarben sie, und in der plötzlichen Stille konnte er Stimmen aus der Galerie hören: eine Kinderstimme, wahrscheinlich Tessas, und eine Männerstimme, möglicherweise Rays.
     
    Das ganze Universum erzählt eine Geschichte, erklärte Mirror Girl.
    Tess kauerte hinter einem riesigen Rollwagen, auf dem ein leerer weißer Heliumzylinder stand, der doppelt so groß war wie sie. Mirror Girl war nicht körperlich anwesend, aber Tess konnte ihre Stimme hören; Mirror Girl antwortete auf Fragen, die Tess noch kaum zu stellen begonnen hatte.
    Das Universum sei eine Geschichte wie jede andere auch, sagte Mirror Girl. Der Titelheld dieser Geschichte heiße »Komplexität«. Komplexität sei auf Seite eins geboren worden, eine Fluktuation, eine Störung in der ursprünglichen Symmetrie. Auf die einzelnen Details der Reifwerdung (die Synthese der Quarks, ihre Kondensation zu Materie, Photogenese, die Erschaffung von Wasserstoff und Helium) komme es weniger an als auf das Muster: Aus einem Ding werden zwei, aus zweien werden viele, viele, die sich in prinzipiell unvorhersehbarer Weise miteinander verbinden.
    Wie bei einem Baby, dachte Tess. So viel hatte sie in der Schule gelernt. Aus einer befruchteten Zelle wurden zwei, vier, acht Zellen, und aus den Zellen wurden Lunge, Gehirn, schließlich eine Person. War das »Komplexität«?
    Ein wichtiger Teil davon, ja, sagte Mirror Girl, Teil einer langen, langen Kette von Geburten. Sterne bildeten sich im abkühlenden, sich ausdehnenden Universum; alte Sternkerne reicherten galaktische Wolken mit Kalzium, Stickstoff, Sauerstoff und Metallen an; neuere Sterne ballten diese Elemente zu felsigen Planeten zusammen; felsige Planeten, von Eis aus den Akkretionsscheiben ihrer Sterne bombardiert, bildeten Meere; diesen entstieg Leben, und damit begann eine neue Geschichte: Einzeller fanden sich zu seltsamen Gemeinschaften zusammen, wurden zu vielzelligen Geschöpfen und dann zu denkenden Wesen; Wesen, die komplex genug waren, die Geschichte des Universums in ihre
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