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Quarantäne

Quarantäne

Titel: Quarantäne
Autoren: Greg Egan
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einer einzigen, alles andere ausschließenden Wirklichkeit. Einen Kompromiß kann es nicht geben.
    Die Kommunikationssysteme werden streng kontrolliert; der geostationäre Satellit für Neu-Hongkong wurde so geschaltet, daß er nur von den UN-Truppen benutzt werden kann – weshalb ich keine Ahnung habe, was der Rest der Welt über die Ereignisse hier denkt. Vielleicht glauben sie, daß es ein Erdbeben gab, einen gigantischen Chemieunfall? Fernsehteams fliegen ständig über unseren Köpfen, haben aber bis heute noch keine Landeerlaubnis erhalten. Mit ihren Teleobjektiven müßten sie eigentlich einige der bizarren Monsterleichen gesehen haben, die zu Beginn der Aufräumungsarbeiten noch in den Straßen herumlagen. Und zweifellos wird es neue Sekten geben, mit Dutzenden von unwiderlegbaren Erklärungen für alles, was passierte.
    Und zweifellos werden auch andere Überlebende hie und da berichten, daß sie einen Toten munter auf der Straße herumspazieren sahen.
    Ich glaube allerdings, daß diese Berichte nie bestätigt werden können, so sorgfältig man die Vorfälle auch überprüft. Nicht, weil ich glaube, daß diese Zeugen lügen oder Opfer einer Sinnestäuschung sind. Alles mag sich so zugetragen haben, wie sie es beschreiben, damals – aber es hatte nie Gelegenheit, wirklich zu werden.
    Ich werde vorerst in diesem Lager bleiben, hier, am westlichen Stadtrand. Ich habe einen Ausweis, meine Essensmarken für zwei Mahlzeiten am Tag, und ich tue, was man mir sagt. Die meisten Helfer hier sind neu rekrutierte Freiwillige, die fest überzeugt sind, daß wir innerhalb eines Jahres wieder unsere eigenen Wohnungen haben werden. Die Erfahreneren unter ihnen räumen jedoch ein, daß es vielleicht ein ganzes Jahrzehnt dauern kann. Man wird Neu-Hongkong nicht wieder aufbauen – zumindest nicht an derselben Stelle –, solange man nicht weiß, warum es in einer einzigen Nacht buchstäblich zerfallen ist. Und diese Antwort wird hoffentlich einige Zeit auf sich warten lassen.
    Es gibt hier nicht viel, womit ich mir die Zeit vertreiben kann. Ich treibe ein wenig Sport, aber die meiste Zeit liege ich in meiner Koje und denke nach. Rolle zum soundsovielten Mal die ganze Geschichte noch einmal auf.
    Letzte Nacht war es, daß ich diesen Gedanken hatte:
    Vielleicht erreichte die verschmierte Menschheit jenen Raum jenseits der Barriere – und hat sich nicht zurückgezogen. Vielleicht ist der ganze Planet immer noch verschmiert. Jedes Bewußtsein beschränkt sich auf einen einzigen Eigenzustand, doch spalten die Eigenzustände sich immer weiter auf, endlos: die Viele-Welten-Theorie. Noch immer regnet es Blut zwischen den Türmen von Neu-Hongkong. Kinder zaubern Blumenranken aus dem Pflaster. Jeder Traum, jede Vision ist wahr geworden: Himmel und Hölle auf Erden, beides zugleich.
    Jeder Traum, jede Vision. Auch diese hier eingeschlossen, so alltäglich sie auch scheint in ihrem Mittelmaß – auf halber Strecke zwischen unendlichem Glück und unendlichem Leid.
    Da liege ich also und starre in die Dunkelheit, ohne zu wissen, ob es die Unendlichkeit ist oder die Innenseite meiner Augenlider.
    Aber ich brauche keine Antwort. Ich sage mir nur immer wieder, was ich schon oft gesagt habe – bis ich endlich einschlafen kann:
    Am Ende bleibt alles so, wie es war.
    ENDE
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