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Quarantäne

Quarantäne

Titel: Quarantäne
Autoren: Greg Egan
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– und sehe einen jungen Mann, der sich in die Luft erhebt und mit geschlossenen Augen, glücklich lächelnd einen Salto nach dem andern schlägt. Die Leute bleiben stehen und bewundern höflich das Schauspiel, als wäre er ein Jongleur oder Zauberer, der seine Kunststückchen vorführt. Eine alte Frau schlägt Wurzeln in dem Beton, auf dem sie steht; aus dem Stoff ihrer Hose und der Haut ihrer Beine wird dunkle Rinde. Eine andere Frau verwandelt sich in eine gläserne Statue, ein fleischfarbener Schimmer zieht sich langsam aus ihren Gliedern in den Rumpf zurück und verschwindet dann ganz. Was für eine Version von ihr hat sich das ausgesucht, obwohl es Selbstmord bedeutete? Aber schon breitet die Statue die Arme aus und rekelt sich, um dann zielbewußt ihres Wegs zu gehen. Ich will ihr folgen, aber sie verschwindet in der Menge.
    Ich gehe weiter.
    An manchen Stellen verbreiten die Straßenlampen gleißendes Licht, als wären es kleine Sonnen – hundert Meter weiter liegt die Stadt in völliger Dunkelheit. Ich biege in eine Gasse ein und wate plötzlich bis zur Hüfte in Goldmünzen. Ich nehme eine Handvoll, es ist schweres, kühles Metall von genau der Härte, die man erwartet. Unmöglich, darin nur einen Schritt zu machen – aber ich gehe weiter, als gäbe es nicht das geringste Hindernis auf meinem Weg.
    Ich komme in eine hellerleuchtete Straße, in der es Blut regnet: große, dunkle, metallisch riechende Tropfen. Die Leute stehen da, die Hände schützend über dem Gesicht, und kreischen, oder haben sich – zitternd, wimmernd – zu Boden gekauert. Was ist das – die Vision eine verschmierten Irren vom Ende der Welt? Wird nun alles auf einmal losgelassen, was es an krankhaften Endzeitvisionen je gegeben hat? Oder ist es nur Zufall, ein unbeabsichtigter Ausrutscher? Viele Menschen mußten im Verschmieren noch recht unerfahren sein, hatten noch keinen Kontakt mit anderen verschmierten Ichs aufnehmen können; gut möglich, daß wir sie unwissentlich kollabieren ließen – und so eine Realität aus Bruchstücken ihrer ersten, kindischen Erkundungen im Superraum aller Eigenzustände schufen. Ich stehe da und sehe zu, bis mir das Blut in die Augen läuft und mich blendet.
    Eine Straße weiter regnet es klares, frisches Wasser, und die Leute haben verzückt die Gesichter zum Himmel erhoben und – trinken.
    Es tut sich etwas auf der Straße, nichts bleibt, wie es war. Manche Leute bekommen immer neue Gesichter; bei einigen geschieht es kontinuierlich, fast unmerklich, bei anderen sprungweise. Sie gehen wie schlafwandelnd dahin und scheinen es nicht zu bemerken. Ich betaste mein Gesicht, um zu prüfen, ob dasselbe auch mit mir geschieht. Überall sprießt Grünzeug aus dem Beton – ganze Weizenfelder, Zuckerrohr, üppiges Dickicht wie im Dschungel. Die Buden einiger Händler zerfallen einfach zu feinem Staub, andere verwandeln sich in exotische Stücke Architektur – und die Wände einer einzigen sind zu Fleisch geworden, durchzogen von Adern von der Dicke meines Arms, in denen dunkles Blut pulsiert. Ich blicke hinauf zu den Wolkenkratzern, die von allem hier noch am wenigsten betroffen sind – aber noch während ich das denke, beginnt das Fraktalmuster eines der Türme wie Konfetti zur Straße zu rieseln.
    Als ich noch einen Block von ASR entfernt bin, sehe ich Po-kwai, die vor einer Essensbude auf der Straße sitzt und starr vor sich hin in die Menschmenge blickt.
    Als ich sie an der Schulter berühre, blickt sie auf, dann weicht sie meiner Hand erschrocken aus.
    »Heh, ich bin’s, Nick!«
    »Nick?« Sie greift nach meiner hellhäutigen Hand und betastet sie vorsichtig, mißtrauisch. Der Anblick scheint ihr Angst zu machen. Sie sagt: »Das habe ich dir angetan, es tut mir leid.«
    Ich lache. »Was soll das heißen? Ich habe es mir selbst angetan. Die erstbeste Tarnung, die mir eingefallen ist, das ist alles.« Ich setze mich neben sie.
    Sie zeigt auf die Leute ringsumher und sagt fassungslos: »Ich zerstöre die Stadt, ich mache die Menschen zu Monstern. Und ich kann es nicht verhindern. Ich habe es versucht, es läßt sich nicht stoppen.«
    Ich nehme sie an den Schultern, drehe sie zu mir. Sie sträubt sich ein bißchen, doch sie sieht mich an.
    »Hören Sie zu: Nichts davon ist Ihre Schuld.«
    Sie gibt einen merkwürdigen, winselnden Laut von sich, aber dann lacht sie fast: »Nein? Wer sonst könnte denn so etwas getan haben?«
    Einen Moment zögere ich: Wozu noch die Mühe, irgend etwas zu erklären? In
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