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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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den Mom immer noch verwöhnte wie ein Baby, obwohl er schon zwölf Jahre alt war. »Ist Pat da?«, rief er herunter.
    »Hinten im Hof«, gab Ken mürrisch zurück.
    Marty bewunderte seinen ältesten Bruder mit einer Inbrunst, die schon peinlich war. Dabei waren es weder Pat noch Dad, die hinter ihm aufräumten, wenn er was angestellt hatte. Der kleine Idiot hatte ein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen, und Ken war es, der die Dinge regelte. Meistens, bevor Mom es mitbekam und sich darüber aufregen konnte. Aber wen himmelte Marty an? Nicht ihn, sondern Pat, der mit eingebildeten Großtaten prahlte. Aber Pat hatte ja auch eine orangefarbene Corvette, in der er Marty ab und zu durch die Nachbarschaft kutschierte, und das zählte viel mehr als jemand, der dem alten David Trumbull hundert Dollar zusteckte, damit der Marty nicht wegen Ladendiebstahls anzeigte.
    Wieder einmal fragte er sich, was eigentlich nicht stimmte mit ihm. Alles, höhnte die boshafte Stimme in seinem Kopf.
    Marty schoss die Stufen hinunter und sauste um die Ecke. Die Fliegengittertür klapperte hinter ihm ins Schloss. »Hey, Pat! Pat, warte auf mich!«
    Es war erst halb acht, und Ken hatte noch Zeit. Er bückte sich nach seinem Rucksack mit den Büchern und verließ das Haus durch die Eingangstür, weil er keine Lust hatte, Pat noch mal über den Weg zu laufen.
    Abendsonne fiel durch die riesigen Bogenfenster des Depots und vergoldete Schutt und brüchige Mauern. Selbst die Glasscherben, die wie zerbrochene Zähne aus ihren Eisenfassungen ragten, schimmerten warm im Licht.
    Wie immer vergewisserte sich Ken, dass niemand in der Nähe war, bevor er in den zerborstenen Aufzugschacht glitt.
    Ab und zu verirrten sich Touristen ins Depot, die die Ruine fotografieren wollten. Und manchmal kletterten die Kinder aus der Nachbarschaft in den verwitterten Gewölben herum.
    Ken zog die Riemen des Rucksacks straff, sodass die Last auf dem Rücken nicht verrutschte. Er grub seinen Fuß in eine kniehohe Vertiefung, stieß sich mit einem Sprung nach oben und packte den ersten Vorsprung mit beiden Händen.
    Es war dunkel im Schacht, aber er wusste mit geschlossenen Augen, wohin er greifen musste. Vor fünf Jahren war das Treppenhaus zusammengebrochen und hatte ein gewaltiges Loch zwischen den vierten und den sechsten Stock gerissen. Ken hatte den Aufstieg durch den Fahrstuhlschacht erkundet und war seither der alleinige Herrscher über alles oberhalb des siebten Stockwerks. Kein Mensch fand den Weg hier herauf.
    Wenn er sich beeilte, schaffte er die Strecke bis zum vierzehnten Stock in drei Minuten. Er fand sich selbst zu dünn, aber sein ganzer Körper bestand nur aus Muskeln und Sehnen. Im Klettern machte ihm keiner was vor.
    Er verbrachte fast seine gesamte Freizeit im Depot. Seit Dad im Vollrausch sein Zimmer demoliert und eine Bierflasche am Bücherregal zerbrochen hatte, hatte er zuerst seine Bücher und dann auch alles andere von Wert hierher gebracht. Das Versteck im Penthouse war perfekt.
    Der Spalt zwischen den Aufzugstüren klaffte gerade weit genug auf, dass Ken sich mit dem Rucksack hindurchzwängen konnte. Seine knöchelhohen Boots mit dem schweren Profil fanden Halt auf dem Linoleum, er zog sich hoch und landete auf der anderen Seite. Die marmorverkleideten Wände des Foyers waren mit Graffiti, Vogelkot und Brandspuren verschmutzt. Schutt bedeckte den Boden. In der Wand am Ende der Lobby klaffte ein Loch, das einen phänomenalen Blick über Downtown Detroit gewährte, der Himmel über den Hochhäusern ein Dom aus Aquamarinblau mit purpurnen und goldenen Schlieren. Ken wischte sich die staubigen Handflächen an den Jeans ab und bahnte sich seinen Weg zwischen Büroruinen hindurch bis zum Treppenhaus auf der anderen Seite.
    Er stoppte vor dem großen Spiegel mit dem Messingrahmen, der wie durch ein Wunder nur an einer einzigen Stelle gesprungen war, und schoss sich selbst einen langen Blick zu. Die Sonne brach sich auf der Staubschicht und wob einen rötlichen Schimmer ins dunkelblonde Haar. Er wischte sich die Locken aus den Augen und fuhr sich über den golddunklen Bartschatten, der Wangen und Kinn bedeckte, und fragte sich, wie es kam, dass er überhaupt keine Ähnlichkeit mit Pat oder seinem Vater hatte. Nicht mal die Farbe der Augen stimmte überein. Seine waren sturmhelles Blau unter fein gezeichneten Brauen, während alle anderen männlichen Mitglieder seiner Familie braune Augen hatten und schwarzes Haar. Vielleicht stimmte es, vielleicht
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