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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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fort, einfach so. Ein Bolzen blieb zitternd im Gestein stecken, dort, wo sich gerade noch seine Hand befunden hatte. Er murmelte ein Stoßgebet und hechtete durch die Öffnung.
    Hinter ihm fuhr die Klinge nieder und zerschmetterte den Stein.
    Seine Haut kribbelte. Für einen langen Herzschlag fühlte er sich schwerelos, bis ihn ein eisiger Luftzug erfasste. Hart landete er, rutschte noch ein Stück und schürfte sich die Handflächen auf. Er wälzte sich herum und starrte in einen bleigrauen Himmel. Schneeflocken trieben ihm entgegen. Einen Augenblick später schoben sich Marielles riesige Amethyst-Augen in sein Sichtfeld. Ihre Locken kitzelten ihn in der Nase.
    Sie kicherte.
    Auf ihrer Schulter klammerte sich ein Purpurkätzchen fest und haschte nach ihrem Engelshaar. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Kurz fragte er sich, ob er tot war und das hier eine jenseitige Welt.
    »Nessa!«, schimpfte das Mädchen. »Hör auf damit!«
    Santino ließ sich zurücksinken. Er begriff nur langsam, dass das Wunder geschehen war. Er hatte Trondhym lebend verlassen. Nessa gab mit einem herzerweichenden Miauen zu verstehen, dass sie jeden Moment zu verhungern drohte, wenn sie nicht sofort etwas zu fressen bekam.
    Er hob eine Hand und wischte sich das Haar aus der Stirn. Als er sie zurückzog, bemerkte er, dass die Blüte immer noch an seinem Arm klebte. Schutzsuchend schmiegte sie sich an den Armreif, die lavendelfarbenen Blätter zitterten schwach im Wind. Im Kelch funkelten ein paar Tropfen Salzwasser.

1
Detroit, 2011. Neun Jahre später.
    Die Ohrfeige auf seiner Wange brannte wie Feuer.
    Wütend starrte Ken seinen Vater an. Seine Finger wollten zurückschlagen, aber sein Bruder Pat lehnte am Küchentresen, mit seinem überheblichen Grinsen. Mach schon, sagte dieses Grinsen. Gib mir einen Grund, Kanalratte.
    »Solange du unter meinem Dach wohnst, widersprichst du mir nicht!«, röhrte Dad. »Ist das klar?«
    Ken atmete tief ein. Dieser Geruch nach altem Bratfett, Zigarettenasche und Spülmittel, der in jedem Winkel des Hauses klebte, bezeichnete sein Leben wie kaum etwas anderes.
    Er fühlte sich elend. Obwohl er vor Wut fast erstickte, brachte er es nicht fertig, die Hand gegen Randall zu erheben. Pat hatte recht, er war ein Feigling. Morgen wurde er neunzehn, war praktisch erwachsen, aber gegen einen beschissenen Säufer kam er nicht an. Und Pat geriet ganz nach dem Alten. Obwohl nur ein paar Jahre älter als Ken, sah er aus wie ein verlebter Mann, mit seinem ungepflegten schwarzen Bart und dem kahlgeschorenen Schädel, auf dem seine Gang-Tattoos prangten. So wie Dad besaß er die Statur eines Preisboxers, Fäuste wie Schmiedehämmer und ein Vorstrafenregister, bei dem einem schlecht werden konnte. Kein Wunder, dass die zwei sich blendend verstanden. Pat war schon immer Daddys Junge gewesen. Und Ken ein Waschlappen, der unmöglich den Lenden von Big Randall O’Neill entsprungen sein konnte, sondern ein Kuckucksei sein musste, das ein fremder Kerl ihm ins Nest gelegt hatte. Jedenfalls war es das, was er brüllte, wenn er Mom quer durchs Haus prügelte.
    Pat stieß sich vom Tresen ab. »Die Jungs kommen um zehn, also sieh zu, dass du fertig bist.«
    »Hey, es ist nur …« Ein letzter Versuch. Dabei war ihm klar, dass es nichts brachte. Er probierte es trotzdem. »Nächste Woche ist mein AP -Test in Geografie, und ich muss lernen.«
    »Ich muss lernen, ich muss lernen«, äffte sein Vater ihn nach. »Wer braucht diesen Mist? Als ich in deinem Alter war, hab ich längst gearbeitet.«
    »Das braucht er, um die Ladys zu beeindrucken.« Pat kicherte, und Dad fiel in sein Gelächter ein. Beim Hinausgehen versetzte sein Bruder ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Um zehn, klar? Wehe, du bist zu spät.«
    Ken verbiss sich die Antwort. Er hatte seit fast drei Jahren einen Teilzeitjob in der Papiermühle hinter dem Depot. Er arbeitete die Wochenendschichten und ein paar Abende unter der Woche, wenn es viel zu tun gab. Sie zahlten sieben Dollar fünfzig die Stunde, und weder Pat noch sein Vater wussten davon. Mom steckte er einen Teil des Geldes zu, der Rest wanderte in den Briefumschlag in seiner Holzkiste im Depot. Für später.
    Ohne ein weiteres Wort verließ er die Küche. Er hörte, wie Dad am Kühlschrank rumorte. Dann sprang der Fernseher im Wohnzimmer an. Mom war bei ihrer Bibelgruppe und würde erst spät nach Hause kommen. Ihr war jeder Vorwand recht, um Dads Nähe zu meiden.
    Oben am Treppenabsatz tauchte Marty auf,
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