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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Ungenauigkeit seines ausländischen Tonfalls zunutze und fand wirkungsvolle Bilder, auf die Muttersprachler nicht gekommen wären. Als Warnung an zukünftige Arbeiter im empirischen Außendienst schrieb er: »Sie mögen über eine ungesunde Gegend reisen oder in einer kränklichen Jahreszeit, sollten Sie dabei nicht sehr vorsichtig sein, mögen Sie auf der Straße krankfallen und ohne Hilfe werden.«
    Beim Lesen dieses Satzes fällt mir ein, dass Josephine, die »treulose« sizilianische Gattin, offenkundig die letzte Frau war, mit der Rafinesque das Bett länger als eine Stunde geteilt hat. Er überlebte diese Ehe allerdings um fünfundzwanzig Jahre, und er war zweiunddreißig, als sie zu Ende war. Er hatte einen merkwürdigen Körper. Seine Hüften waren breit, er war sehr muskulös, dabei aber untersetzt. Nackt sah er vielleicht so aus wie Harvey Keitel in Das Piano , aber mit einer riesigen Stirn, einer so großen, so hohen Stirn, dass die Leute in Kentucky sich nicht einig werden konnten, ob er »eher kahlköpfig« war oder doch »einen vollen Schopf Haare« hatte. Ein Reporter, der ihn während seiner ersten Amerika-Reise in Philadelphia traf, bezeichnete ihn als »grotesk«. Immerhin Audubons Frau
und Tochter waren nett zu ihm. Er wurde der exzentrische Onkel der Familie. Kleine Verschreiber – drownded statt drowned (ertrunken), unic statt unique (einzigartig), condamned statt condemned (verurteilt) – geben Hinweise auf den barthaarzwirbelnden, bühnenhaft französischen Akzent, der die Mädchen so erfreute.
    An der Bootsanlegestelle fiel Audubon »ein gewisser Grad an Ungeduld in seiner Bitte« auf, »sofort sehen zu dürfen, was ich hatte«. Daher »öffnete ich meine Mappen und legte sie vor ihn hin«.
    Rafinesque übte Kritik, »was für mich von größtem Vorteil war«, schreibt Audubon, »denn da er sowohl mit der Natur als auch mit Büchern überaus vertraut war, war er durchaus geeignet, mir Rat zu erteilen«.
    Alle Amerikaner sollten in Audubons Ornithological Biography das Kapitel über die idyllischen drei Wochen lesen, die die beiden 1818 in Hendersonville verbrachten; sie sind unser Gauguin und unser van Gogh, nur nicht ganz so verrückt. Audubon schreibt: »Wir lustwandelten gemeinsam im Garten.« Sie redeten und redeten. Oder sie schwiegen. Sie spazierten durch die Wälder oder suchten Muscheln im Fluss. Audubon schaffte es sogar, Rafinesque zum Branntweingenuss zu überreden. Dafür musste er ihn allerdings bis zur Herzrhythmusstörung erschrecken: Er führte ihn zur Schnepfenjagd in ein kilometertiefes Schilfdickicht, wo es dunkel und stürmisch wurde, wo sie von einem Jungbären gestreift wurden, das Schilf in der drückenden Schwüle wie Gewehrschüsse knallte und wo »sich verwelkte, am Röhricht hängende Blatt- und Rindenpartikel an unsere Kleidung hefteten«. Wie Schuppen. Jetzt waren sie die Fische! Audubon war mit Daniel Boone zur Jagd gegangen und konnte über solche Abenteuer nur lachen. Rafinesque hatte ein einziges Mal einen Vogel abgeschossen. Diese »Grausamkeit« verwand er nie. Audubon zog also seinen Flachmann hervor. Rafinesque trank, zuckte zusammen, entleerte
seine Taschen dann von »Pilzen, Flechten und Moosen, die er in sie hineingestopft hatte«, und »ging dreißig, vierzig Yards deutlich würdevoller weiter«.
    Als sie wieder sicher zu Hause waren, machten sie sich über kalten Braten her. »Ich hörte ihm mit derselben Freude zu, mit der Telemachos Mentor gelauscht haben muss«, schreibt Audubon. Es war heiß, sie öffneten das Fenster; die Kerze zog Motten an. In unserem Stillleben sitzen die Messrs. Rafinesque und Audubon am offenen Fenster am Tisch, mitten in der Nacht, 1818 in Kentucky, an einem Ort, dessen Name den Einwohnern zufolge »dunkler, blutiger Grund« bedeutet, wahrscheinlich aber einfach nur für »Weideland« steht. In einem Kauderwelsch aus Englisch und Französisch machen sie Witze über Insekten, in einer Sommernacht, wie alle Bewohner von Kentucky sie kennen – in der erfrischend feuchten Luft, die auf ein Gewitter folgt. Beim Blick hinunter auf die Wälder, die die beiden wie ein sternenloser Ozean umgeben, könnte man sie für die einsamsten Menschen der Welt halten, aber eigentlich erleben sie einen Moment seltener Freiheit. Im Innern ihrer kegelförmigen Kerzenflamme liegt Paris. Audubon greift nach einem großen Käfer und wettet, dass er einen Kerzenleuchter auf seinem Rücken tragen könne. »Zeuge dieses Experiments zu werden,
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