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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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wandert einsam durch sein Leben; und sinnt, die Einsamkeit sich zu versüßen, indem er Geistes Blüten pflückt.«
     
    Man muss davon ausgehen. Sie ist die einzige Frau, zu der der amerikanische Rafinesque, soweit uns bekannt, eine zärtliche Beziehung pflegte, wenn auch eine der, wie er es formulierte, »glanzlosesten« Art. Wir wissen, dass er während der Jahre in Philadelphia den Kontakt zu ihr hielt, denn ihr Name, »Mary Holley, geborene Snowden«, findet sich auf einer Liste seiner botanischen Briefpartner. Wer weiß, was sie gemeinsam erlebt hatten – ganz sicher eine Art mystischer Hochzeit. In seinem Testament überantwortete er seine unsterbliche Seele »dem Allwaltenden Herrscher über die Millionen von Welten, die sich durchs All bewegen«. Auf ihrem Totenbett in New Or
leans stieß Mary Holley mit ihrem letzten Atemzug hervor: »Ich sehe Welten auf Welten, die im Weltall herumrollen. Oh, es ist wunderschön!« (Ihre letzten Worte waren die besseren. Die von Rafinesque waren nörglerisch oder erwiesen sich zudem als unzutreffend: »Letzten Endes lässt die Zeit allen Gerechtigkeit widerfahren.«)
    Den Tod, der ihn qualvoll durch Magenkrebs ereilte, fürchtete er nicht. Denn die letzte auf der Liste seiner unterschätzten Tugenden ist, dass seine Naturwissenschaft auch eine wunderbare Metaphysik darstellt. Er war einer der ersten, der die Wiederentdeckung der Menschheit als Teil des Tierreichs in ihrer Bedeutung erfasste – als tatsächlich physischen Bogen, der die Zeitalter des materiellen Universums überspannte. »Die Natur macht keine Sprünge«, hatte Leibniz gesagt, einer von Rafinesques großen Helden. Wenn wir aber Teil der Natur sind, dann sind wir auf metaphysischer Ebene eins mit ihr, sind wir gleichbedeutend mit den allerfrühesten Mikroorganismen, die am Kraterloch eines Urmeervulkans eine erste Kette bildeten. Es gibt keinen Zauberstab, der sich vor dreihunderttausend Jahren herabgesenkt und uns in unserem wesenhaften Sein von der materiellen Welt, die uns hervorgebracht hat, getrennt hätte. Und das bedeutet wiederum, dass wir keine grundlegende Aussage über die Natur – weder über ihre Brutalität noch über ihre Schönheit – treffen und hoffen dürfen, etwas Wahres zu sagen, wenn das, was wir behaupten, nicht auch auf uns selbst zutrifft.
    Das Gewicht dieser These wird erst dann klar, wenn wir sie umdrehen: Was auf uns zutrifft, trifft auch auf die Natur zu. Wenn wir ein Bewusstsein haben, wie unsere Spezies es entwickelt zu haben scheint, dann hat die gesamte Natur ein Bewusstsein. Vielleicht um sich selbst zu beobachten, entwickelte die Natur in uns ein Bewusstsein. Vielleicht trägt sie uns vor sich her und dreht uns zu sich um wie eine Krabbe ihre Stielaugen. Aus welchem Grund auch immer: Das Ding da drau
ßen, mit seinen schwarzen Löchern, Sternennebeln und was nicht alles – es hat ein Bewusstsein. Man kann einfach nicht in den Spiegel schauen und das rational abstreiten. Es empfindet Liebe und Begehren – oder glaubt zumindest, das zu tun. Diese Vorstellung reicht schon, um den jüdisch-christlichen Kosmos einigermaßen altbacken aussehen zu lassen. Für Rafinesque zählte nur die harte Wissenschaft. Was dieses Ding, diese Welt, wirklich ist – wer weiß das schon. Es bleibt ein Rätsel. »Sie lebt ihr Leben nicht als Mensch oder Vogel«, schrieb Rafinesque, »sondern als Welt.«
    Ein Rätsel ist kein Grund zur Verzweiflung. Die Ehrfurcht, die Rafinesques Vision in einem auslöst, liefert eine hinreichend stabile Basis für Ethik, Philosophie, Liebe und die Schlussfolgerung, dass ein vergängliches Bewusstsein besser ist als gar kein Bewusstsein, eben weil es in uns die Vorstellung von wunderbaren Dingen erweckt, von denen wir nichts wissen können und angesichts deren wir schlicht keine Ausrede dafür haben, nicht doch von einem Sinn auszugehen.
    Rafinesque vervollkommnete seine Spielart dieser ehrenvollen Philosophie, während er in den Gärten meiner Kindheit botanisierte und Ruderalpflanzen untersuchte, die mir vertraut sind, seit ich mich erinnern kann. Deswegen habe ich diese Philosophie mit geringfügigen Änderungen von ihm übernommen. Als Religion funktioniert sie ausgezeichnet. Andere reden von Gott. Ich aber glaube, dass ich mit Gott zusammensitzen kann, dass Gott eine der Masken dieses Dings ist. Oder dass dieses Ding Gott ist.
    Um Robert Penn Warren zu zitieren (der einen Teil seines besten Romans an der »Transy« des 19. Jahrhunderts spielen
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