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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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einem von Rafinesques Gattungsnamen herum ( Helmitherus [Laubsänger]); da meldet sich ein anderer Fachmann zu Wort, der den Vorwurf entkräftet, indem er darauf hinweist, der Nominativstamm sei zwar ungewöhnlich, wäre allerdings auch von Aristoteles bevorzugt worden.
    Hätte Rafinesque eine ordentliche theoretische und praktische Ausbildung genossen, so wäre diese in die Jahre um 1800 herum gefallen, in die Zeit also, in der die wissenschaftliche Spezialisierung, wie wir sie kennen, allmählich kodifiziert wurde. Die Abermillionen philosophischer Projekte, die von der Aufklärung angestoßen wurden, brachten im Westen die erste überwältigende Flut an Datenmaterial hervor, insbesondere im Bereich der Naturgeschichte. Wer sich auf einem Feld wirklich auskennen wollte, musste sein Wissensgebiet nun deutlich einschränken. Rafinesque verschlief den Alarm, der diese Veränderung in der Matrix ankündigte. Er trat auf den Plan und wollte immer noch alles wissen, wollte ein Synthetisierer sein. Er verkannte, dass die Zeiten nach sauberer, präziser, empirischer Datenerhebung riefen. Seine Bücher, so gab er verschroben bekannt, seien fürderhin als Einzelbände eines Lebenswerkes zu begreifen, den Annales de la Nature . Tief in seinem Inneren sitzt er immer noch in der
großmütterlichen Bibliothek. Und dann geht er nach Amerika, wo die Überfülle an nicht klassifizierten Lebewesen, welche diese methodologischen und begrifflichen Umbrüche überhaupt erst mit ausgelöst hatte, nur auf ihn wartet. Er hätte auch Morgenrock und Turban tragen können, als er Dinge äußerte wie: »Die Vielzahl der Klänge, die [Donner] hervorruft, kann schwerlich auf eine beschreibende Aufzählung verkürzt werden: Damit will ich sagen, dass ich das zu einem anderen Zeitpunkt versuchen werde.« Er zerbrach an der Neuen Welt, und uns bleiben diese großartigen Bruchstücke. Rafinesque wusste mehr, aber sein Wissen blieb lückenhaft. Seine Konkurrenten wussten weniger, aber ihr Wissen war solider.
    Er erfindet das Wort Malakologie (Weichtierkunde). Er erfindet die bis heute gebräuchliche Bezeichnung Taíno für jene Inselbewohner der Karibik, auf die Kolumbus stieß. Er erhält den Titel »Vater der amerikanischen Myriapodologie« (Tausendfüßerlehre). Er wird der erste Mensch, der begreift, was Staub ist, nämlich etwas, das zu großen Teilen aus der Atmosphäre stammt.
    1831 schreibt er einen philosophischen Zirkel in New York an und schlägt die Gründung eines »Kongresses Friedvoller Nationen« vor. Danach schreibt er einen offenen Brief an die Cherokee, in dem er ein Jahrzehnt, bevor genau das wirklich geschieht, davor warnt, man werde sie bald gewaltsam gen Westen vertreiben.
    Schon 1821 hatte er in Lexington, Kentucky, folgende Mahnung veröffentlicht, die er als Sinnspruch von Benjamin Franklin zu verkaufen suchte (was nicht stimmt – ich habe überall nachgesehen): »Landwirtschaft betreibende Nationen! Duldet keine Sklaven unter euch; die Erde ist ein Geschenk Gottes, sie muss von freien Händen bestellt werden.«
    Sein Gefasel über die Atalanten mag so wahnsinnig klingen wie das Gebrabbel verwirrter Propheten in der U-Bahn, er bleibt doch der einzige Forscher, der sich ernsthaft mit den
Erdhügeln von Kentucky beschäftigt hat, ohne sie dabei zu beschädigen. Er machte keine Ausgrabungen. Er wusste, dass im Inneren Grabbeigaben waren, fand es aber wichtiger, das Äußere so exakt wie möglich zu beschreiben und den Rest zu bewahren. Er freute sich auf den Tag, an dem »unsere Pyramiden und Monumente besucht werden wie die ägyptischen«. Hätte man diese Philosophie ernst genommen, hätte sie eine größere Wirkung entfaltet als alle anderen archäologischen Ansätze, die im Amerika des 19. Jahrhunderts formuliert wurden. Das ist mein voller Ernst: Immerhin können wir den meisten Erdhügeln mit unserem Bodenradar und unserer Kohlenstoffdatierung nicht zu Leibe rücken, weil sie von Leuten zerstört wurden, die beweisen wollten, dass die Indianer eigentlich Hebräer sind. Rafinesque wollte die Hügel nur ansehen.
    Als er nach seinem Aufenthalt bei Audubon in Lexington strandete, wo ihm die Transylvania University für fünf Jahre eine Honorarprofessur für Naturwissenschaften gab, ließ man ihn dort nicht Materia medica unterrichten, weil er sich weigerte, Leichen aufzuschneiden.
     
    In dieser Zeit kam er ins Haus meiner Urururururgroßeltern Luke und Ann Usher. (Als ich das erfuhr, war ich über Jahre von ihm
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