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Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Pubertät – Loslassen und Haltgeben

Titel: Pubertät – Loslassen und Haltgeben
Autoren: Jan-Uwe Rogge
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Erziehungspraxis umzusetzen ist. Der Heranwachsende fordert ja heraus, will anecken, sich reiben, sich an Grenzen stoßen, sie niederreißen, übertreten, verletzen und geringschätzen. Die Zwischenwelt der Pubertät scheint wie geschaffen für Ausbruchsversuche und Grenzverletzungen. Jugendliche fühlen wohl unbewusst: Wann – wenn nicht jetzt? Um es vorweg zu sagen: Ich habe auch meine Schwierigkeiten mit manchen pubertären Grenzverletzungen, mit rüpelhaftem, unsozialem, (selbst-)zerstörerischem Verhalten. Ich habe Schwierigkeiten mit medialen Horrorszenarien oder unendlichen Saufgelagen, in denen man sich nur zuschüttet, um schnell «abzukotzen», wie es der 1 5-jährige Ulrich einmal ausdrückte. Aber dennoch habe ich den Eindruck, dass die manchmal extremen Grenzüberschreitungen von Erwachsenen häufig falsch bzw. nicht in angemessener Form bewertet werden.
    Die Heranwachsenden werden vorschnell pathologisiert, wenn sie Grenzen verletzen, wenn sie phantasielos, gewalttätig, hedonistisch, unsozial, nicht leistungsbereit sind und dem Konsumrausch verfallen. Sie werden von einer «Das-hat-es-bei-uns-nicht-gegeben»-Haltung als fleischgewordene Symbole für den drohenden Untergang der abendländischen Kultur hingestellt. Eine derartige Einschätzung spielt eine harmonische Vergangenheit gegen eine konfliktträchtige, ja apokalyptische Gegenwart aus. Sie klärt nicht auf, sie vernebelt, verängstigt, macht handlungsunfähigund installiert Verständnislosigkeit zwischen den Generationen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, was hier gemeint ist: «Wenn Väter ihre Kinder einfach gewähren und laufen lassen, wie sie wollen, und sich vor ihren erwachsenen Kindern geradezu fürchten, wenn Söhne schon sein wollen wie die Väter, also ihre Eltern weder scheuen und fürchten noch sich um ihre Worte kümmern, sich nichts mehr sagen lassen wollen, um ja recht erwachsen und selbständig zu erscheinen, wenn Lehrer vor ihren Kindern und Schülern zittern und ihnen lieber schmeicheln, statt sie sicher mit starker Hand auf einen geraden Weg zu führen, sodass sich diese Schüler aus diesen Lehrern nichts mehr machen, wenn es überhaupt schon so weit ist, dass sich die Jüngeren den Älteren gleichstellen, ja gegen sie auftreten in Wort und Tat, die Älteren sich aber unter die Jungen setzen, um sich ihnen gefällig zu machen, indem sie ihre Albernheiten übersehen oder gar daran teilnehmen, damit sie ja nicht den Anschein erwecken, als seien sie Spielverderber oder gar auf Autorität versessen: Wenn auf diese Weise die Jungen allmählich aufsässig werden und sich alsbald verletzt fühlen, wenn ihnen jemand den geringsten Zwang antun will, wenn sie am Ende dann die Gesetze verachten, um nur ja keinen Gebieter über sich zu haben – so führt dieser Missbrauch der Freiheit und Demokratie geradewegs in die Knechtschaft der Tyrannis.» Diese Worte sprach der griechische Philosoph Plato bereits vor 2400   Jahren.
    Nun will ich nicht behaupten, es sei mit der Pubertät immer schon so gewesen. Pubertätsverläufe – darauf hat der Soziologe Helmut Fend in seinen eingehenden Untersuchungen hingewiesen – sind von komplexen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen abhängig, ihre inneren wie äußeren Erscheinungsbilder stellen sich höchst unterschiedlich dar. Aber wenn man sich die Geschichte der Jugend, die Geschichte der Pubertät durch die Jahrhunderte anschaut, fällt eines auf: Das Zwischen- und Entwicklungsstadium Pubertät bringt Veränderungen mitsich, die allen Beteiligten offensichtlich Angst machen. Frühere Zeiten versuchten die Unsicherheit durch Riten und Rituale in den Griff zu bekommen, mit denen man Jugendliche in das Erwachsenenalter leitete. Unsere Zeit kennt solche Riten und Rituale immer weniger, ja, man hat sie sogar abgeschafft. Doch leben solche Rituale gewissermaßen in den Gruppen der Gleichaltrigen fort – in den Saufgelagen, den Treffen an einer zugig-kalten Bushaltestelle, in den verschworenen Cliquen, die sich in einer Geheimsprache verständigen.
    Wenn man Jugendliche vorschnell stigmatisiert oder abstempelt, nimmt man wie durch eine Taucherbrille nur das wahr, was man sehen und kommentieren will. Ebenso wenig hilft die entgegengesetzte Haltung, die für jede Grenzverletzung Nachsicht zeigt. Pubertierende verachten dauernd verständnisvolle Erwachsene, nehmen sie nicht ernst. Und dies scheint, wie das Zitat von Plato zeigt, nicht erst für unser Jahrhundert zu gelten. Mit
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