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Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen

Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen

Titel: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen
Autoren: Heinrich Mann
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wenig beachtete Äußerung Heinrich Manns (»›Unrat‹, dieses lächerliche Scheusal [...] hat doch einige Ähnlichkeit mit mir«) und die groteske Umkehrung der kleinstädtischen Verhältnisse – Aggressionslust, strammer Nationalismus und Autoritätsgläubigkeit schlagen in blinde Anarchie um – weisen darauf hin, dass die Hauptfigur nicht nur als typisiertes Objekt der Satire, sondern auch als Vexierbild des Satirikers zu verstehen ist. Der Roman stellt sich, abgehoben von bisheriger populärer Auffassung, als sozialpathologische Studie dar, in der die psychologische Motivation des Leidens und Handelns den Einzelnen auch dann noch prägt, wenn er den politischen Mechanismus seiner Gesellschaft durchschaut und gegen sie revoltiert.
    Der alternde Gymnasialprofessor Raat, seit mehr als einem Vierteljahrhundert im Schuldienst tätig und traditionsgemäß als »Unrat« verhöhnt, ordnet sein Verhältnis zu den Schülern psychologisch demselben Machtprinzip unter, das er – ein glühender Chauvinist, der »über die Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waffendienst« Aufsätze schreiben lässt – politisch vertritt. Seiner tyrannischen Herrschsucht, die sich in drakonischen Strafen, ungerechten Zensuren und sinnwidrigen Anordnungen manifestiert, entsprechen innere Ohnmacht und Triebverdrängung. Immer auf dem Sprung, »jeden je möglichen Widerstand zu brechen«, gerät er auf der Suche nach widerborstigen Schülern in die Spelunke »Zum blauen Engel«, wo die leichtlebige »Künstlerin« Rosa Fröhlich gastiert. Aus der Sucht, die Schüler zu »fassen«, es den vermeintlich Aufsässigen zu »beweisen« und seine »Erbfeinde« an ihrer »Laufbahn« zu hindern, verirrt er sich in einen fremdartigen, verwirrend-erotischen Dunstkreis; seine Machtvorstellung wird allmählich von bislang zurückgedrängter, triebhafter Sinnlichkeit unterhöhlt. Je öfter er im »Kabuff« der Rosa Fröhlich verkehrt, je mehr seine autoritäre Stellung bei den Schülern dadurch untergraben wird, desto näher rückt er den von ihm Unterjochten; der in seiner Macht geschwächte Tyrann begegnet ihnen auf der gleichen Stufe: als ein Untertan. Als schließlich »die überreizte Zärtlichkeit des Menschenfeindes« über alle Hemmungen und Konventionen siegt und Unrat die auf Sicherheit bedachte Fröhlich heiratet, ist seine bürgerliche Stellung verloren. Verteidigt er als Zeuge in einem Prozess gegen drei seiner Schüler wegen mutwilliger Beschädigung eines Hünengrabs anfangs noch die geheiligten Güter staatserhaltender Gesinnung, so bricht im Folgenden der unterdrückte Hass auf die bürgerliche Gesellschaft, die ihn geprägt hat, durch: In einer geifernden Rede wendet er sich gegen die großbürgerliche Kaste, den dekadenten Adel und die korrumpierten Kleinbürger, die repräsentativ in den drei pubertären Sündenböcken Lohmann, von Ertzum und Kieselack erscheinen.
    »Auf neue, unvorhergesehene Weise« dehnt sich Unrats Kampf aus, als er nach einem lehrreichen Aufenthalt an der See mit seiner Frau in die Stadt zurückkehrt. Aus einem Seitensprung Rosas hat er gelernt, dass erotische Libertinage die Bürger fesselt und sie – wie ihn selbst – unversehens zu Untertanen macht. Seine »Villa vor dem Tor« wandelt er nun zu einer Stätte nächtlichen Vergnügens und verbotener Glücksspiele um, was sich im Getuschel der Kleinstadt zu einer um so größeren Sensation ausweitet, als das Glück im Verborgenen blüht. Unverhüllt entblößt sich, was die Schüler vorher im Spottnamen »Unrat« auf ihren Lehrer abgewälzt haben. Je mehr er durch sein anarchistisches Treiben die »Entsittlichung einer Stadt« vorantreibt, desto mehr fällt jedoch auch Unrat seiner verzehrenden Rachsucht zum Opfer. Seine Seele, »ihre Abgrundflüge, ihr fürchterliches Auskohlen, ihr über alles hinaus zu sich selber Verdammtsein«, legt die Disposition des Satirikers bloß, der – wie seine Hauptfigur – an dieser von ihm analysierten Gesellschaft leidet. »All dies fanatisch Überkochende«, in expressionistischen Metaphern zum Sprachbild abgründiger Dämonie erhöht, kann jedoch die Gesellschaft letztendlich nicht gefährden: Als Unrat eine Brieftasche stiehlt, wird er verhaftet, und die vormalige bürgerliche Fassade der Wohlanständigkeit kann restauriert werden.
    Professor Unrat
findet sein stoffliches und thematisches Pendant in dem 1914 fertiggestellten Roman
Der Untertan
, in dem HeinrichMann vor derselben kleinstädtischen Kulisse
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