Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche

PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche

Titel: PR Lemuria 04 - Der erste Unsterbliche
Autoren: Leo Lukas
Vom Netzwerk:
Äußerungen gegeben im Vorfeld der Reifefeier, leise, hinter vorgehaltener Hand geraunte: »Ungefähr jeder Dritte kommt nicht wieder von der Heiligen Queste zurück, bleibt in den Bergen oder der Hölle verschollen... Drum sei darauf bedacht, dich nicht vorzeitig zu verausgaben. Und lass in deiner Wachsamkeit niemals nach! Da oben haust zwielichtiges Volk und tollwütiges Getier... «
    Wieder andere hatten undeutlich von »natürlicher Auslese« und »Überleben der Fittesten« gemurmelt, und ihn dabei so unverhohlen missfällig von oben bis unten gemustert, als zählten sie ihn ganz sicher nicht zu den Geeigneten. Ja, als erwarteten sie geradezu von ihm, dass er auf der Strecke blieb und sie von seiner unnützen, ihre Augen beleidigenden Anwesenheit erlöste.
    Boryk erwog ernsthaft, ihnen den Gefallen zu tun. Nur so weit empor zuklettern, bis er eine ausreichend tiefe Spalte gefunden hatte, in die er sich stürzen konnte. Dies erschien ihm verlockend: Der permanenten Angst und Qual, dem beißenden Spott und geheuchelten Mitleid ein Ende zu setzen. In Frieden zu ruhen... Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm diese Lösung. »Erinnert ihr euch noch an den kleinen Boryk mit den großen Ohren und den krummen Beinen? Den Krippbruder von Gujnar und Rautsh? Er war nichts wert, zu nichts wirklich zu brauchen, eine Art Missgeburt, ja ja. Armer Kerl. Aber immerhin, er ist mit Stil abgetreten. Hat vorher noch die Lederhose ausgezogen und hingelegt, damit sie eins seiner jüngeren Geschwister tragen kann, und dann... He Leute, was haltet ihr davon, wenn wir diese Spalte nach ihm benennen? >Boryks Kluft<, das klingt doch nicht schlecht, oder?«
    Er war schon gut fünfzig, sechzig Meter hoch über dem Festplatz, als er plötzlich merkte, dass er sich in Bewegung gesetzt und den steilen Pfad in Angriff genommen hatte. Boryk blickte ungläubig auf seine nackten Füße. Prompt stolperte er über eine Wurzel, verlor das Gleichgewicht und musste sich am verkrüppelten Stamm eines Olivenbaums festhalten, um nicht den Hang hinunter zu purzeln. Wind, der nach Altöl und fauligen, halb vergorenen Früchten roch, klatschte ihm die schweißnassen Haare in die Stirn. Boryk blieb stehen um zu verschnaufen.
    Unter ihm lag im blassvioletten Mondenschein das Dorf. Kein Rauch stieg auf, kein Fenster war beleuchtet. Alles schlief. Boryk wunderte sich mit einem Mal über sich selbst. Wie hatte er diesen Ort und die meisten der Bewohner verabscheut! Die Enge und Beschränktheit, die dumpfe Brutalität, das Desinteresse an allem, was über Essen und Saufen, Arbeiten und Fortpflanzung hinausging.
    Jetzt aber erschien ihm die kleine, zwischen die Ausläufer des Gebirges geduckte Ansiedlung als das reinste Paradies.
    Der Garten Ehedem...
    Hinter den Hütten der Familien und den Ställen der Tiere erstreckten sich die Felder, Beerenhecken und Haine. Wandelten sich zu Wiesen und Savannen, mischten sich mit Sümpfen und Dünen. Dort, an jenem Strand, hatte er schwimmen gelernt; wie üblich als Letzter des Jahrgangs. Rautsh hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu tauchen, ihn für ewig erscheinende Sekunden unter Wasser zu drücken. Todesängste hatte Boryk ausgestanden bei dem, was für die anderen ein harmloses Spiel gewesen war. Jedes Mal wieder hatte er gejapst und geheult, zum Gaudium seiner Krippbrüder. Und sich nichts flehentlicher gewünscht, als doch endlich, endlich erwachsen zu werden.
    Seltsam: Nun, da es so weit war, sehnte er sich nach der Kindheit zurück...
    An der Küste stiegen diesige Schleier auf. Dennoch konnte Boryk bis zum Horizont sehen, wo das Meer sich hochwölbte und ins Firmament überging.
    »Was liegt eigentlich hinter dem Horizont?«, hatte er einmal gefragt, und verdutztes, lang anhaltendes Gelächter geerntet. Die Geschichte hatte sich rasch herumgesprochen. Noch Monate später zog ihn Gujnar damit auf. »Wisst ihr, wo Boryk wohnt?«, pflegte er zu skandieren. Und die anderen Kinder und Halbwüchsigen antworteten im Chor: »Hinter dem Horizont!« Dann hielten sie sich wiehernd und gackernd die Bäuche, während Boryk vor Scham im Boden versinken wollte.
    Was liegt eigentlich unter dem Boden?
    Ärgerlich trat er gegen den verwachsenen Baumstamm. Manchmal glaubte er selbst, eine Missgeburt zu sein: schwach auf der Brust, aber dafür nicht ganz richtig im Kopf. Niemand sonst stellte solch dumme Fragen. Wozu? Die Welt war trefflich eingerichtet und enthielt exakt alles, was die Menschen brauchten. Damit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher